Pierre (Melvil Poupaud) ist ein Idiot. Shauna (Fanny Ardant) drückt sich zwar etwas diplomatischer aus, aber das ist genau, was sie meint. Und der Zuschauer ist geneigt, ihr da voll und ganz zuzustimmen. Denn Pierre ist ein erfolgreicher Arzt. Er hat eine bezaubernde Frau, einen achtjährigen Sohn und eine erwachsene Tochter. Hätte Pierre einen Funken Verstand im Leib, würde er all das auf keinen Fall aufs Spiel setzen, schon gar nicht für eine 70jährige Frau, die an Parkinson erkrankt ist. Doch Pierre ist die Hauptfigur in einem französischen Liebesfilm. Es ist das Filmgenre, in dem der Verstand im Kampf gegen die Wucht der Gefühle regelmäßig unterliegt. Man nennt das Phänomen auch amour fou („verrückte Liebe“).
Die bierernste politische Agenda läßt wenig Raum für Leichtigkeit
„Im Herzen jung“ spielt im Covid-Jahr 2021. Glücklicherweise rennen trotzdem nicht alle Figuren mit Maske herum. Im Gegenteil: „In einer Zeit, in der verboten wurde, sich zu berühren und zu umarmen, um uns vor dem Rest der Welt zu beschützen“, sagt Regisseurin Carine Tardieu, „scheint es mir von elementarer Bedeutung, die Geschichte einer älteren Frau zu erzählen, die sich noch einmal mit großer Leidenschaft ins Leben stürzt.“
Die erste, zufällige Begegnung zwischen Shauna und Pierre schildert sie in einem Prolog, der fünfzehn Jahre vor der eigentlichen Handlung angesiedelt ist: 2006 stirbt Shaunas Freundin Mathilde in dem Lyoner Krankenhaus, in dem Pierre als Krebstherapeut tätig ist. Georges (Sharif Andoura), Mathildes Sohn, der ebenfalls in der Klinik arbeitet, ist Pierres bester Freund. Und so muß der Zufall für das nächste Zusammentreffen zwischen Shauna und Pierre nicht überstrapaziert werden. Als der inzwischen zum angesehenen Onkologen aufgestiegene Mediziner 2021 nach
Dublin reist, um auf einer Konferenz Forschungsgelder für eine neue Krebstherapie-Methode einzuwerben, lädt der mitgereiste Georges seinen Freund ein, mit ihm an die irische Küste zu fahren. In der Nähe der Stadt Cork hatte die verstorbene Mathilde ein idyllisch am Meer gelegenes Ferienhaus. Und dieses nutzt Shauna gelegentlich als Rückzugsort. Sie hat sich im Sinne ihrer Freundin Mathilde in all den Jahren um das Haus gekümmert. So kommt es also zum Wiedersehen zwischen dem 45jährigen Arzt und der viel älteren Dame. Trotz des großen Altersunterschiedes sind beide in Null Komma nichts der Liebe verfallen. Und die Probleme, die in dem gleichnamigen Film, also in „Der Liebe verfallen“ (1984), Robert De Niro und Meryl Streep das Leben schwer machen, stellen sich selbstverständlich auch bald ein. Denn irgendwann erfährt Pierres Frau Jeanne (Cécile de France) von der Untreue ihres Mannes. Das Alter ihrer Nebenbuhlerin bringt sie zum Lachen. Doch das Lachen vergeht ihr schnell ...
„Im Herzen jung“, im Original: „Les jeunes amants“, ist ein typisches Die-Liebe-hat-immer-recht-Melodram, wie es das französische Kino liebt und seit Jahrzehnten immer wieder erzählt. „Fanny Ardant spielt diese zerbrechliche Heldin hervorragend“, urteilte die französische Zeitung Le Monde – und hat recht. Carine Tardieu, die die Regie von der verstorbenen Sólveig Anspach übernahm, läßt viele Szenen im Halbdunkel spielen. Die Hauptfiguren halten sich zumeist in schlecht ausgeleuchteten Räumen auf. Und wenn sie draußen sind, regnet es öfter, als die Sonne scheint.
Heitere Szenen sind Mangelware. Tardieus bierernste politische Agenda läßt wenig Raum für Leichtigkeit. Im Interview spricht sie von „patriarchalischen Mustern“, die sich „endlich in Luft auflösen“ müßten und die schuld daran seien, daß eine Liebesgeschichte zwischen einem Mann in den Vierzigern und einer dreißig Jahre älteren Frau total aus dem Rahmen fällt. Ihr Film ist also sowohl Hommage als auch Replik an Claude Lelouchs weniger schwermütige Romanze „Der Mann, der mir gefällt“ (1969), aus der auch ein kurzer Ausschnitt zu sehen ist. Dort spielte Annie Girardot die Frau, die sich mit den jäh aufflammenden Gefühlen für einen attraktiven Mann (Jean-Paul Belmondo) herumplagt.
Daß Carine Tardieu für ihre Filmheldin das gleiche Los bereithält wie Claude Lelouch, ist damit natürlich nicht gesagt. Und wer immer schon gerätselt hat, was einen vergleichsweise jungen Mann zu einer deutlich älteren Frau hinziehen kann, eines dürfte ihm klar sein: Die Antwort führt nur über Frankreich.