© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/23 / 04. August 2023

In der eigenen Sprache zu Hause
Chronist deutscher Zustände: Ein Nachruf auf den Schriftsteller Martin Walser
Thorsten Hinz

Martin Walser war der letzte Grande der von der Kriegs- und Flakhelfergeneration geprägten Literatur der westdeutschen Bundesrepublik. Er starb vergangenen Freitag im Alter von 96 Jahren. Ein Chronist und Tiefenbohrer der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (Helmut Schelsky), der Gesellschaft der Angestellten, der tüchtigen Aufsteiger, der Produzenten und Konsumenten des Wirtschaftswunders. Der Chronist auch der deutschen Verzwergung, musterhaft dargestellt in der Kurzgeschichte „Nach Siegfrieds Tod“ aus dem Jahr 1964.

Darin erfährt der auf wagnerianische Schicksalsschwere eingestimmte Leser vom Tod des Büroboten Siegfried Brache. Auf dem Schwarzen Brett der Firma teilt der Personalchef mit, der Verstorbene sei einem „Herzschlag“ – statt einem „Herzinfarkt“ – erlegen, was einen Berufsgenossen Braches zu einer wütenden Suada vor der versammelten Büroboten-Belegschaft veranlaßt, die in den Fragen gipfelt: „Wollte er damit seinen Feind, unseren Kollegen Siegfried Brache, noch im Tod demütigen, weil er ein radikaler Bote war? Oder soll der Bote für immer des Herzinfarkts unwürdig bleiben?“ Woraufhin die Betriebsleitung zu der Auffassung gelangt, daß den Boten nicht länger zugemutet werden könne, „revolutionäre Fragen im Gang stehend zu diskutieren“, weshalb man ihnen dafür künftig den großen Sitzungssaal der Firma zur Verfügung stelle. Danach zeichnet sich auf den Gesichtern der Angestellten „wieder etwas wie Verklärung“ ab. Eine Loriot-würdige Szene, die den prätentiösen Infantilismus der bundesdeutschen Diskurs-Gesellschaft persifliert.

Der Verleger und Publizist Wolf Jobst Siedler, der für sich die großbürgerliche Attitüde kultivierte, bekundete in seinen Memoiren seinen Überdruß an der Provinzialität der deutschen Nachkriegsliteratur, die zu wenig politisch gewesen sei und sich in der „kleinstädtischen Welt“ erschöpft hätte. Der verlorene Weltkrieg, Millionen Tote, der Massenmord an den Juden, die Ostgebiete weg, ein riesiger Flüchtlingsstrom, der sich über das Restdeutschland ergoß: „Aber die deutschen Romane beschäftigten sich mit Kleinbürgern im Rheinland, Fabrikanten in Württemberg und unappetitlichen Affären der Provinz.“

Das war auf den Kölner Heinrich Böll, aber auch auf Walser gemünzt, der 1957 mit „Ehen in Philippsburg“ sein Romandebüt gegeben hatte, in dem die Konturen Stuttgarts sichtbar werden. Walser indes hat den Hohn über den Kleinbürger, der sich seines hart erarbeiteten Eigenheims erfreut, entschieden zurückgewiesen „Das ist, das war schließlich der Sinn seines Lebens: die Unabhängigkeit, die ein Häuschen verspricht und doch nicht hält.“ Die bittere Dialektik, die Walser hier formulierte, bestätigt sich heute erneut durch die auf Enteignung angelegten Heizungs- und Wärmedämmungsgesetze. Wieder ist „der Kleinbürger eine ausgenutzte, ausgepowerte Figur (...) in der Geschichte“, welche „die größten Spesen bezahlt“.

Eine der wichtigsten literarischen Gestalten Walsers trägt den bigotten Namen Anselm Kristlein. Der 1920 geborene Kristlein ist die Hauptfigur der zwischen 1960 und 1973 erschienenen Romane „Halbzeit“, „Das Einhorn“ und „Der Sturz“. Kristlein ist ein zunächst erfolgreicher Aufsteiger, der aber materiell und seelisch Schiffbruch erleidet. Sein Erfinder hat ihm nach Abschluß der Trilogie den ironischen „Nachruf auf einen Verstummten“ gewidmet und die bedrohte Kleinbürgerlichkeit seines Helden bündig zusammengefaßt: „Alles war Feindesland. In jedem Augenblick konnte eine neue Gemeinheit den Krieg gegen ihn eröffnen. Im Kaukasus des Jahres 45 mußten er und seinesgleichen ihr Leben anders verteidigen als im Manhattan der fünfziger Jahre. In München-Süd anders als in Stuttgart-West. Und weil er so wenig standfest war, wurde er in alles hineingezogen, in Erotikintrigen, in Wirtschaftskämpfe, Salonkämpfe, Kulturkämpfe, in Untergänge von Konzernherren, Fremdenlegionären, Einzelhändlern, SS-Offizieren, Friseurstöchtern, Millionärsgeliebten ...“

Walsers Figuren sind äußerlich leidlich arriviert, doch gleichzeitig unzufrieden, unerfüllt, innerlich unbehaust. Die Bodenlosigkeit ihrer Existenz hängt häufig mit dem Verlust der Kindheit und der familiären Vorzeit zusammen, die unter Kriegstraumata und unter politischen Diskursen und öffentlichen Narrativen verschüttet sind. Walser hatte sie zum Teil mitgeprägt. Im Laufe der Jahre hat er sich mehr und mehr von ihnen distanziert.

Spektakulär geriet sein Auftritt in der Reihe „Reden über das eigene Land“ 1988 in den Münchner Kammerspielen, wo er sagte: „Das erworbene Wissen über die mordende Diktatur ist eins, meine Erinnerung ist ein anderes. Allerdings nur so lange, als ich diese Erinnerung für mich behalte.“ Die Unschuld der eigenen Erinnerung ließe sich öffentlich nicht vermitteln, weil eine normierte Sprechweise vorherrsche: „Die Vergangenheit liefert den Stoff, in dem einer sich heute human bewährt.“ Allerdings um den Preis der Selbstentfremdung, wobei die verinnerlichte und die äußere Fremdbestimmung Hand in Hand gingen. Um das Verlorene und Entfremdete wieder ans Licht zu heben, kam Walser in einer lange nicht mehr gehörten Weise auf die deutsche Teilung zu sprechen.

Er wies darauf hin, daß sich in beiden deutschen Staaten die größte Konzentation an Massenvernichtungswaffen weltweit befand. „Und das ist doch wohl zuerst eine Folge unserer Nicht-Souveränität in Ost und West. Eine Folge der Teilung.“ Er zitierte Verse des DDR-Schriftstellers Wulf Kirsten, die an die hölderlinsche Hymnendichtung erinnerten („zur Elbe winden sich / grüngeschuppt die fiedrigen Täler wie deichselraine“) und leitete daraus ab, daß der Bundesrepublik in der DDR „etwas gespart“ sei und „es ein unblamiertes Deutsches noch gibt“. Die westdeutsche Literatur klinge dagegen oft „wie Ideologie“. Er machte deutlich, daß er sich mit der versuchten „Vernünftigmachung der Teilung“, die längst auch im Westen betrieben wurde, nicht abfinden wolle und schlug sogar vor, in beiden deutschen Staaten eine Volksabstimmung zur Wiedervereinigung abzuhalten.

Der Historikerstreit lag zu dem Zeitpunkt keine zwei Jahre zurück. Walser, der einst in den sechziger und siebziger Jahren mit der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) sympathisiert hatte, geriet in den Ruch des Nationalismus. Der gewöhnlich kluge SPD-Politiker Peter Glotz schrieb in der Zeit: „Der aufklärerische Schriftsteller Martin Walser leidet an nationalem Mystizismus.“ Der aus der DDR in den Westen übergesiedelte Schriftsteller Jurek Becker – Autor des Getto-Romans „Jakob der Lügner“ – gab unter der Überschrift „Gedächtnis verloren – Verstand verloren“ seiner flammenden Empörung Ausdruck: „Walser setzt seine Hoffnung darauf, die Bevölkerungen der beiden deutschen Staaten mögen gegen das Diktat des Auslands aufbegehren. Und auch gegen ihre eigenen Regierungen, die sich so würdelos dem ausländischen Druck beugen.“ Unterstützung kam hingegen, ebenfalls in der Zeit, von Fritz J. Raddatz: „Was sind es für Argumente, die unsereins das Nachdenken über irgendeine Form, irgendeine Weise, irgendeinen Zeitraum aus dem Kopf bleuen wollen, da Buckow nicht mehr nur als Brechts ‘Buckower Elegien’ zu uns gehören könnte und sollte?“ 

Eine weitere Wendung Walsers wirkte noch spektakulärer. Mit dem 1965 veröffentlichten Aufsatz „Unser Auschwitz“ hatte er dem bundesdeutschen Schuld-Diskurs einen entscheidenden Impuls verliehen. Dreißig Jahre später sah er die Gefahr einer Hyper-Dominanz des Holocaust-Diskurses und kritisierte das in Planung begriffene Mahnmal für die ermordeten Juden Europas als „einen fußballfeldgroßen Alptraum“. In seiner Dankrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1998 in der Frankfurter Paulskirche verwahrte er sich gegen die „Dauerpräsentation unserer Schande“ und attackierte die „Meinungssoldaten“, die „mit vorgehaltener Moralpistole“ dem Schriftsteller eine falsche, eine „geliehene Sprache“ aufnötigen wollten. 

In seiner Literatur hielt er dagegen. In dem 1991 veröffentlichten Roman „Die Verteidigung der Kindheit“ verbringt der 1929 geborene Jurist Alfred Dorn, dessen Familienpapiere 1945 in den Dresdener Bombennächten verbrannt sind, einen großen Teil seines Lebens damit, „Spuren der vergangenen und der vergehenden Zeit“ zu sichern, um seine Vergangenheit in einem Alfred-Dorn-Museum zu rekonstruieren. Das allerdings überfordert seine Kräfte, er stirbt ein Jahr vor der Wiedervereinigung.

Glücklicher geht es im Roman „Ein springender Brunnen“ (1998) zu, in dem Walser mit überquellender Sprachkraft eine Kindheit im Dritten Reich schildert, die sich von den äußeren Umständen unbeschädigt weiß. Soll heißen: Es gibt ein richtiges im falschen Leben. Und es gibt ein Menschenrecht, die nachträgliche Vergiftung seiner Ursprungsquelle abzuwehren.

Das ist die bleibende Konfession Walsers, die vielleicht wichtiger und beständiger ist als seine Einzelwerke: Der ständige Kampf gegen das Gift einer aufgezwungenen Sprache, die das Eigene verfälscht und am Ende sogar tödlich wirken kann.