Kann Niger der wichtigste westliche Verbündete in der Sahelzone werden? fragte der Risikoanalyst für Westafrika, Mucahid Durmaz, in einem Al-Jazeera-Leitartikel im Mai 2022. Die Regierung in Niamey habe sich der internationalen Gemeinschaft gegenüber stets als freundlicher und zuverlässiger Partner präsentiert und die westliche Hilfe genutzt, um ihre militärische Stärke im Epizentrum der Konflikte in der Sahelzone zwischen Mali, dem nördlichen Burkina Faso und dem westlichen Niger auszubauen, so Durmaz weiter.
Diese Analyse teilten die USA, die EU, Deutschland und vor allem die ehemalige Kolonialmacht Frankreich. Gerade Anfang Mai hatten Nicolas Maes, Generaldirektor des staatlichen Atomunternehmens Orano, und die nigrische Bergbauministerin Hadiza Ousseïni den Betrieb der Uranmine Somair im Norden des Landes bis 2040 verlängert. Als Gegenleistung verpflichtete sich Orano dazu, rund 39 Millionen Euro in „prioritäre‘‘ Sektoren in Niger zu investieren, darunter im Bildungswesen.
Als vergangene Woche eine Gruppe von Offizieren der nigrischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (FDS), die im Nationalen Rat zum Schutz des Vaterlandes (CNSP) vereint sind, die Regierung von Mohamed Bazoum festsetzte und erklärte, alle nationalen Institutionen der 7. Republik zu suspendieren, geriet die Nigerpolitik des Westens ins Schwanken.
Deutsche Elitesoldaten an den Rand der Sahara entsendet
Warnende Stimmen, wie die des Experten Jean-Loup Samaan vom Middle East Institute in Singapur, wurden negiert: „Niger mag heute eine Demokratie sein, aber sie ist zerbrechlich. Seit seiner Unabhängigkeit von Frankreich im Jahr 1960 hat das Land vier Militärputsche erlebt. Nach seiner Wahl im Jahr 2021 versuchten Soldaten einen Putsch gegen Bazoum, der jedoch innerhalb weniger Stunden scheiterte“, erklärte Samaan im März in der Tageszeitung The National vor allzuviel Blauäugigkeit.
Auch auf Maikoul Zodi, den in Niamey ansässigen Koordinator der panafrikanischen demokratischen Interessengruppe Tournons La Page, hörte niemand, als er im Mai 2022 gegenüber Al Jazeera erklärte, daß sich die ausländischen Streitkräfte trotz ihrer zehnjährigen Tätigkeit in der Sahelzone als unwirksam erwiesen hätten. „Die Zusammenarbeit mit Europa und Frankreich als ihrem Anführer ist unausgewogen und berücksichtigt nicht die Interessen der Menschen in Niger“, so Zodi.
Doch vor dem Hintergrund des Abzugs der Truppen der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich aus Mali (Operation Barkhane), deren Vertreibung aus dem ebenfalls von einer Junta geführtem Burkina Faso sowie dem Vorstoß der russischen Wagner-Söldner in diesem Gebiet, schrillten in der westlichen Welt die Alarmglocken.
Schon im Zuge des Endes der Operation Barkhane hatte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron erklärt, daß die Operation im Niger fortgesetzt werde, allerdings in kleinerer und veränderter Form, die auf die Wünsche Niameys zugeschnitten sei. Diese Operationen werden „strikter von den Anfragen der afrikanischen Länder bestimmt und werden die Form von ‘Unterstützung’ und nicht von ‘Ersatz’ für das lokale Militär annehmen“, unterstrich der Befehlshaber der Operation Barkhane, General Laurent Michon, in einem Interview mit AFP. „Manchmal haben wir bei Operationen gegen die Dschihadisten anstelle der lokalen Streitkräfte gehandelt“, übte Michon Kritik an der französischen Vorgehensweise.
Im Februar 2022 stimmte Nigers Präsident Mohamed Bazoum dieser Umstellung zu. Im April votierte das Parlament mit 131 Ja-Stimmen, bei 31 Nein-Stimmen, für die Fortsetzung der engen Militärkooperation und somit für den Einsatz von bis zu 1.500 französischen Soldaten. Um die Opposition, die gegen die Präsenz französischer Truppen agitierte und die hohen Lebenshaltungskosten anprangerte, zu beruhigen, erklärte Premier Ouhoumoudou Mahamadou: „Unsere Armee ist eine der besten in Westafrika, aber das reicht nicht aus, denn Terroristen kommen von überall her, unser Territorium ist riesig und unsere Zahl immer noch unzureichend.“ Dabei kommt es immer wieder zu Einsätzen gegen „Dschihadisten“ oder „Terroristen“. So führte eine Abteilung des 2. Fallschirmjäger-Fremdenregiments (2e REP) zusammen mit „nigrischen Kollegen“ am 15. Mai 2023 einen Einsatz in der Region Liptako im Südwesten Nigers durch.
Dabei fällt auf, daß bei den Einsätzen von Terroristen berichtet wird. Unter dem Titel „Terrorismus in Niger, der Albtraum der Fernfahrer und der Provinzbewohner“ spricht der nigrische Journalist Omar Sylla von „Straßenpiraten“. Diese navigierten mit den Warenströmen durch die Wüste, überfielen Konvois, die abgelegenen Bevölkerungsgruppen mit ihren Waren das Leben ermöglichen sollen, und töteten schamlos unschuldige Zivilisten. „Der Präsident von Niger und seine Armee, unterstützt von ausländischen Streitkräften, bekämpfen diese gesetzlosen Banditen, die eine Religion instrumentalisieren, um die Schwächsten anzugreifen“, so Sylla.
Vor diesem Hintergrund forderte der scheidende Gouverneur, Abubakar Sani Bello, Angaben der Daily Post zufolge den Einsatz von Sicherheitskräften, um in sensiblen Gebieten im ganzen Staat gegen „Banditenbewegungen“ vorzugehen. Bello betonte, diese in großer Zahl die Gegenden von Kumbashi und Rijau unsicher machten und fügte hinzu, daß das Hauptproblem die „Unruhe der Jugend sei, die ihr häßliches Gesicht“ erhebe. Er beklagte zudem die unzureichende Anzahl an Sicherheitspersonal in dem Gebiet im Vergleich zur Größe des Staates und fügte hinzu, daß es in der Region Rijau keine Spezialeinheiten der Polizei gebe.
„Wenn im Sahel Staaten zerfallen, dann spüren wir das Beben auch hier in Europa. Deswegen werden wir uns auch in Zukunft weiter für die Menschen in der Region engagieren – zivil und militärisch“, betonte Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock Anfang Mai dieses Jahres. Das Bundeskabinett hatte gerade die letztmalige Verlängerung des UN-Minusma-Einsatzes der Bundeswehr in Mali beschlossen und zugleich erklärt, den Fokus seines Engagements im Sicherheitsbereich verstärkt auf den Niger zu legen. Deutschland beteiligt sich mit bis zu 60 Soldaten an der „European Union Military Partnership Mission in Niger (EUMPMEU) und betreibt dazu in Niamey einen Lufttransportstützpunkt.
Rußland kritisiert „neokoloniale Praktiken“ des Westens
Vor diesem Hintergrund finanzierte Berlin den Bau der nigrischen Unteroffizierschule in Agadez, die im September 2022 von der Parlamentarischen Staatssekretärin im Bundesverteidigungsministerin Siemtje Möller (SPD) feierlich übergeben wurde. Seit 2018 bildete Deutschland im Rahmen der Joint Special Operation Task Force Gazelle (JSOTF Joint Gazelle) in Niger nigrische Spezialkräfte aus. Angaben der Bundeswehr zufolge seien diese mit Schutzausstattung, Geländewagen, Funk- und Nachtsichtgeräten ausgestattet worden. Auch die erforderliche Infrastruktur im nigrischen Tillia sei mitfinanziert worden. Am Einsatz der JSOTF Joint Special Operations Task Force Gazelle, der Ende 2022 auslief, waren die Spezialkräfte der Marine, der Luftwaffe und des Heeres sowie über 50 verschiedene Dienststellen und Truppenteile aus nahezu allen Organisationsbereichen der Bundeswehr beteiligt.
Dem nicht genug. Während des Besuchs von Siemtje Möller in Niamey im Juni dieses Jahres unterschrieb die SPD-Politikerin zusammen mit dem nigrischen Verteidigungsminister Alkassoum Indattou die erste Zuwendungsvereinbarung zum Aufbau eines Militärkrankenhauses. „Neben der Eröffnung der Unteroffiziersschule im vergangenen Jahr ein gelungenes Beispiel der erfolgreichen Partnerschaft unserer beiden Länder“, schrieb Möller auf Facebook. Parallel dazu gab der Rat der Europäischen Union im Juni 2023 4,7 Millionen Euro frei, um den Kauf militärischer Ausrüstung für die nigrischen Streitkräfte zu finanzieren.
Doch nicht Deutschland und auch nicht die Ex-Kolonialmacht Frankreich – die USA sind der wichtigste Partner des westafrikanischen Staates. „Niger ist der größte Empfänger von Militärhilfe des US-Außenministeriums in Westafrika und der zweitgrößte Empfänger in Subsahara-Afrika“, erklärte Außenminister Antony Blinken bei seinem Besuch in Niger am 16. März. Der Besuch sei eine Anerkennung der „robusten bilateralen Beziehung mit einem wichtigen Partner in den Bereichen Demokratie, Regierungsführung und regionale Sicherheit“, so Blinken.
Zusätzlich zur Bereitstellung wichtiger humanitärer Hilfe in Höhe von fast 150 Millionen Dollar arbeiteten cirka 800 US-Beamte mit ihren nigrischen Kollegen zusammen, um Sicherheitsbedrohungen einzuschätzen, technisches Fachwissen auszutauschen, Strategien für Stabilisierungsmaßnahmen zu entwickeln und gemeinsam auf den Frieden hinzuarbeiten, heißt es im US-Außenministerium. „Unsere Regierungshilfe unterstützt jede Facette der nigrischen Stabilisierungsprogramme, von der Verbesserung der Transparenz der staatlichen Lebensmittelverteilung bis zur Stärkung der Zusammenarbeit zwischen der Nationalgarde, der Nationalpolizei und den Gemeinden, denen sie dienen.“
Ein Tropfen auf den heißen Stein im Kampf gegen „Banditen“, „Straßenpiraten“, „Dschihadisten“ und „gewalttätige extremistische Organisationen“? Mehr als 900 Schulen seien aufgrund der Unsicherheit in der Region Tillabéri nahe der Grenze zu Mali geschlossen worden, erklärte der nigrische Bildungsminister nach einem Besuch Ende Mai in dieser Region, die regelmäßig Schauplatz von Angriffen sei. So wie am 20. Juli, als zwölf nigrische Bauern nach Angaben der Niamey News bei einem Angriff „bewaffneter Männer“ in zwei Dörfern in Tillabéri nahe der Grenze zu Mali, auf ihren Feldern getötet wurden. Die „instabile Region Tillabéri liegt im sogenannten ‘Dreiländereck’ zwischen Niger, Mali und Burkina Faso, das regelmäßig von dschihadistischen Gruppen heimgesucht wird, die mit al-Qaida oder dem Islamischen Staat in Verbindung stehen“, so die Niamey News.
Verpufft die westliche Hilfe im Sahelgebiet? Hatte nicht die burkinische Militär-Übergangsregierung, die sich Ende September an die Macht putschte, am 18. Juni 2023 die „mutige Entscheidung“ der Behörden Malis, den sofortigen Minusma-Rückzug in Mali begrüßt? „Die Sahelzone ist das Labor einer neuen Weltordnung“, erklärt Beatriz Mesa, Professorin für Politische Wissenschaften an der Universität Rabat, und legte die Finger in die Wunde.
Durch die Regimewechsel in Mali und Burkina Faso fühlt sich Moskau im Kampf um Macht, Einfluß und Ressourcen in der Sahelzone im Vorteil. „Rußland leistet den afrikanischen Ländern ehrliche Hilfe, ihre Sicherheit und ihr Wirtschaftswachstum zu gewährleisten. Das ist unser grundlegender Unterschied zum Westen, der seinem Überlegenheitskomplex nicht gerecht wird und versucht, neokoloniale Praktiken aufrechtzuerhalten“, betonte Rußlands Außenminister Sergej Lawrow am 7. Juni.
Die „anhaltende Verschlechterung der Sicherheitslage sowie die schlechte Wirtschafts- und Sozialpolitik“ hätten die CNSP zu ihrem Schritt bewogen, hatte Oberst Amadou Abdramane erklärt. Doch wie die westliche Welt verurteilte auch Rußland den Staatsstreich und rief die Konfliktparteien dazu auf, ihren Streit im Dialog beizulegen. Rußland hoffe, so die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Marija Sacharowa, daß „diese innenpolitische Krise bald im Interesse des Friedens und zum Wohle des brüderlichen nigrischen Volkes gelöst“ werde.
Frankreich verurteilte die Gewalt in Niger, nachdem Demonstranten versucht hatten, in dessen Botschaft in Niamey einzudringen. Man werde Vergeltung üben, wenn französische Bürger in Niger angegriffen würden, hieß es aus Paris.