© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/23 / 04. August 2023

Deutsche Firmen zieht es nach Amerika
Deindustrialisierung: Die USA locken mit Subventionen, niedrigen Energiekosten und schnelleren Entscheidungen
Paul Leonhard

Colorado Springs am Fuße des Pikes Peak am Ostrand der Rocky Mountains statt Thalheim in Sachsen-Anhalt. Der Solarmodul-Hersteller Meyer Burger aus Thun in der Schweiz (Jahresumsatz 153,6 Millionen Euro) hat sich für den US-Bundesstaat Colorado entschieden. Gegen Europa und für das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“. Dort locken Subventionssummen und Bedingungen für Industrieansiedlungen, die weder Deutschland noch die EU aufzubringen vermögen.

Und so zieht es dank des milliardenschweren Investitionsprogramms der Biden-Regierung (Inflation Reduction Act/IRA) und wegen regionaler Vergünstigungen viele Firmen magisch nach Übersee: Audi, BMW, Schaeffler, Siemens Energy, den Kupferkonzern Aurubis oder eben Meyer Burger. Das Unternehmen, das bisher Solarzellen und -module in der Schweiz entwickelt und in Deutschland fertigt, rechnet mit einer Förderung bzw. Steuergutschriften von 1,4 Milliarden Dollar für sein neues US-Werk mit geplanten 350 Mitarbeitern.

Das war ursprünglich für Thalheim geplant, wo derzeit ebenfalls 350 Mitarbeiter Solarmodule fertigen und die Kapazität bis Ende 2024 von derzeit 1,4 Gigawatt pro Jahr auf 3,4 bis Ende 2024 auf rund 15 Gigawatt bis 2027 erweitert werden sollte. Pläne, die die Konzernführung jetzt beerdigt hat, denn die staatliche Förderung in Deutschland hätte für das 800 Millionen Euro teure neue Werk nur 200 Millionen Euro betragen. Die für die Erweiterung des deutschen Standortes bereits angeschafften Maschinen werden einfach in die USA gebracht. „Wir machen dann in Thalheim weiter, wenn die Rahmenbedingungen in Europa passen“, kündigte Meyer-Burger-Chef Gunter Erfurt an. Aktuell sei Europa kein guter Ort, um in Solarindustrie zu investieren. Die magische Anziehungskraft der USA macht die Situation für Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck schwierig. Während die Bürger gegen seine grüne Energiepolitik auf die Straße gehen, sucht die Industrie, so möglich, das Weite.

Wie ein Offenbarungseid liest sich sein Aufruf an Unternehmen, die beim Aufbau einer europäischen Solarindustrie mithelfen wollen, ihm bis 15. August ihr Interesse an einer Investitionskostenförderung zu signalisieren. Gleichzeitig sollen Bewerber einen Nachweis darüber erbringen, wie viel Unterstützung sie an „einem Standort außerhalb der europäischen Währungsunion“ bekommen würden – sprich das Ministerium hat völlig den Überblick verloren. Ganz abgesehen davon, daß die gesamte Förderinitiative des Grünen-Politikers finanziell weder im Bundeshaushalt untersetzt, noch von der Europäischen Kommission genehmigt ist. Die Wertschöpfungsketten, für Habeck immerhin eine „Frage der ökonomischen Sicherheit“ des Kontinents, entstehen in Übersee. Meyer Burger, der letzte europäische Solarzellenhersteller, erhält die zugesagten 1,4 Milliarden Dollar über einen Zeitraum zwischen 2024 und 2032. Colorado Springs und der Bundesstaat werden sich an den Energiekosten mit 90 Millionen beteiligen. Dazu kommt wohl noch ein Zuschuß des US-Energieministeriums von mehr als 300 Millionen Dollar. „In den USA rollt man uns für Neuansiedlungen von Werken und Absatz von Solarmodulen den roten Teppich aus“, zitiert das Nachrichtenportal ZDF heute.de aus einem Schreiben der Schweizer an Bundesfinanzminister Christian Lindner.

Rund 5.600 deutsche Firmen investieren laut Angaben der Deutsch-Amerikanischen Handelskammer in den US-Markt. Das Investitionsvolumen entspreche fast 650 Milliarden Dollar (Stand September 2022). Nach einer Umfrage der Deutschen Industrie- und Handelskammer plant bereits jedes zehnte Unternehmen Produktionsverlagerungen, darunter überdurchschnittlich viele Maschinenbauer und Betriebe aus der Chemie- und Kunststoffbranche.

Grund sind nicht nur die großzügigen Subventionen, sondern auch die niedrigen Energiepreise und die zunehmenden geopolitischen Spannungen, die die USA vielen deutschen Firmen als „sicherere Hafen“ erscheinen lassen, so Dirk Dohse, Experte für internationalen Wettbewerb am Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW), gegenüber den „Deutschen Wirtschaftsnachrichten“. Die deutschen Autobauer leben es vor. Sie müssen nicht abwandern, sondern lediglich die Produktion von E-Autos in den USA hochfahren. Längst baut VW beispielsweise den ID.4 in Chattanooga, Tennessee, und Mercedes den EQS und EQE SUV in Tuscaloosa, Alabama. Und BMW will bis 2030 mindestens sechs E-Modelle in Spartanburg, North Carolina, produzieren und investiert dafür 1,7 Milliarden Euro. Audi erwägt sein erstes US-Werk zu bauen.

Haben die USA das versprochene Geld überhaupt?

Der Chemiekonzern Evonik baut für rund 220 Millionen Euro eine neue Anlage zur Produktion pharmazeutischer Lipide und erhält eine Subvention von 150 Millionen Dollar. Siemens Energy will Anlagen für die Wasserstoffwirtschaft in den USA bauen. Das neue Recyclingwerk von Aurubis soll 2024 in Georgia in Betrieb gehen, eine Erweiterung ist geplant. Ganz ohne Zuschüsse hat dagegen Haribo nach Angaben von Unternehmer Hans Guido Riegel die rund 300 Millionen Dollar Kosten für sein erstes Werk in den USA gestemmt. In Pleasant Prairie im Bundesstaat Wisconsin laufen jetzt 15 Millionen Goldbären täglich vom Band, künftig sollen es sechsmal so viele sein. Trotzdem trauen deutsche Firmen dem Förderboom in den USA nicht gänzlich. Viele fahren lieber zweigleisig, halten an ihrer Produktion in Europa fest, wollen sich wie Meyer Burger sogar am Interessebekundungsverfahren der Bundesregierung beteiligen. Davon zeugt auch, daß die Schweizer in den USA sich lediglich eine vorhandene Halbleiterfabrik als Standort mit einem langfristigen Mietvertrag gesichert haben. Man ist offenbar bereit, Produktionslinien jederzeit hin und her zu schieben, beispielsweise für den Fall, daß der US-Regierung das Geld ausgeht oder mit einem neuen Präsidenten eine neue Wirtschaftspolitik gefahren wird.

Die Unternehmensförderung durch das Inflationsminderungsgesetz mit einem Gesamtvolumen von 430 Milliarden Dollar – rund 370 Milliarden für Klimaschutz und Energiesicherheit – koste die USA in Wirklichkeit 1,2 Billionen Dollar, hat die Investbank Goldman Sachs errechnet und damit unausgesprochen die Frage in den Raum gestellt: Haben die USA angesichts eines enormen Haushaltsdefizits dieses Geld überhaupt?

Und Europa? Hier hat unlängst der US-Chiphersteller Intel das Pokerspiel um weitere Fördermittel gewonnen. Mit der Drohung, doch keine Fabrik in Magdeburg zu bauen, konnte er die zugesagte Fördersumme von 6,8 auf zehn Milliarden Euro nach oben schrauben. Als Antwort auf den IRA hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Anfang Februar den „Green Deal Industrial Plan“ vorgelegt, nach dem die Mitgliedsländer mehr Staatshilfen und Steuererleichterungen für grüne Technologien vergeben dürfen.

Das sei nicht zielführend, heißt es in einem Bericht des wissenschaftlichen Beirats beim Bundesfinanzministerium. Stattdessen sollten die Planungs- und Genehmigungsverfahren beschleunigt, die grenzüberschreitende Infrastruktur verbessert, die Steuer- und Regulierungslasten gesenkt und alle Instrumente der EU zu einer sinnvollen Gesamtstrategie zusammengefügt werden. Ähnlich sieht es Arbeitgeber-Präsident Rainer Dulger. Der IRA setze nicht auf staatliche Regulierung, sondern auf Anreize: „Ich glaube, das ist für eine wirtschaftlich orientierte Gesellschaft der bessere Weg.“ Clemens Fuest, Präsident des Münchner ifo-Instituts, plädiert dafür, statt Firmenansiedlungen zu subventionieren, lieber das Geld in Forschung und Entwicklung zu investieren.


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