© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/23 / 04. August 2023

Balkon mit EU-Blick
Georgien: Der EU-Beitrittskandidat versucht kulturell und wirtschaftlich Brücken über das Schwarze Meer zu schlagen. Eine Reportagereise zur Nahtstelle der Kontinente
Martina Meckelein

Mit ihren schlanken Fingern streicht die zierliche Frau zart über den Bilderrahmen. Hinter dem Glas schaut ein Mann in Uniform streng. Es ist eines dieser alten Fotos auf dickem Kartonpapier, dessen Schwarz-Weiß-Kontraste im Laufe der Zeit ein mildes Beige-Braun annehmen. „Unser letzter Prinz“, sagt Manana Gedewanishwili leise. Und dabei werden ihre eleganten Gesichtszüge ganz weich, sie schweigt selbstvergessen, um plötzlich leise aufzulachen. Dann dreht sie sich mit mädchenhafter Eleganz – fast als ob sie tanzen wollte – dem Schreibtisch ihres längst verstorbenen Vaters zu. „Schauen Sie hier“, sagt sie und zeigt auf einen Wandbehang. Unwillkürlich denke ich: Mein Gott, so müssen sie gewesen sein, diese Damen der Gesellschaft zur Jahrhundertwende. Und ja, hier, mitten in der Millionenstadt Tiflis mit ihren Trabantenstädten und ihrem irrwitzigen Autoverkehr, in einem alten Stadtpalais voller Jugendstilmöbel, edelstem Porzellan, Bildern und alten Teppichen sind fast 200 Jahre georgische Geschichte konserviert. Die Zeit scheint stehen geblieben zu sein.

Was als Ehrung der Universität Tiflis gegenüber dem 1948 verstorbenen Sprachwissenschaftler Richard Meckelein, dem Großvater meines Mannes, geplant war, der das erste deutsch-georgische Wörterbuch schrieb – inklusive vieler Besuche alter Freunde der Familie –, wurde zu einer höchst politischen Reise. Wer Georgien hört, der denkt an Wein, wunderbares Essen, den Kaukasus und das Nationalgewürz Koriander. Dabei ist Tiflis, oder Tbilissi, wie die Georgier sagen, die Hauptstadt eines der aufregendsten Länder Europas – oder Asiens. Die geographische Zuordnung liegt im politischen Auge des Betrachters.

1730 veröffentlichte Philipp Johann von Strahlenberg im Auftrag des Zaren seine Berechnungen zur geographischen Grenze Europas und Asiens: Er machte die 500 Kilometer lange Manytsch-Niederung aus und ordnete Georgien dem Kontinent Asien zu. Unter anderem daraus begründete Rußland seinen Anspruch auf das Land. Engländer, Franzosen und Georgier sehen das anders: „Wenn Sie den Ural auf der Landkarte nach unten ziehen, dann liegt Georgien in Europa, nicht in Asien“, sagt Alexander Kartosia, Professor für deutsche Sprache und Übersetzung an der Iwane-Dschawachischwili-Staatsuniversität in Tbilissi. „Deshalb beantworten wir Georgier ja auch die Frage nach dem höchsten Berg Europas mit der Nennung unseres Schchara.“ Der dritthöchste Gipfel des Kaukasus reckt sich 5.201 Meter über Normalnull und ist damit knapp 400 Meter höher als der Mont Blanc in Frankreich.

So lustig sich das anhört, für viele Georgier ist die Zuordnung zu Europa äußerst bedeutend. Das Volk, immerhin 3,7 Millionen Einwohner, bezeichnet sein Land selbst als Balkon Europas. Der ist ungefähr so groß wie Bayern und ein eher dünn besiedeltes Fleckchen zwischen den Welten. Kein Wunder: Im Norden liegt der Große Kaukasus und im Süden der Kleine – beides Hochgebirge. Mittendrin auch noch der Lichi-Gebirgszug. Im Norden begrenzt Rußland den kleinen Nachbarn. Im Süden liegen die Türkei, Armenien und Aserbaidschan. Das Schwarze Meer treckt von Westen an den Strand. Hier wohnt seit dreitausend Jahren das kleine Volk der Georgier.

Die Regierung in Tiflis, so behaupten einige westliche Medien, sei im Grunde nur eine Marionette des rußlandfreundlichen Milliardärs Bidsina Iwanischwili. Seine Partei „Georgischer Traum“ stellt die Regierung und sie, so heißt es, gäbe nur vor, den Anschluß nach Westen zu suchen. In der Realität umgehe sie die Sanktionen gegen Rußland. Waffenlieferungen an die Ukraine lehnt sie ab. Und nun auch noch das: „Rußland und die Schwarzmeerrepublik Georgien nehmen trotz ihrer Spannungen und der Warnungen des Westens erstmals seit 2019 ihren direkten Flugverkehr wieder auf“, berichtete die Flugzeitschrift aero am 16. Mai dieses Jahres. „Als erste russische Fluglinie erhielt am Montag die Gesellschaft Azimuth Airlines eine Erlaubnis für tägliche Direktflüge von Moskau in die georgische Hauptstadt Tbilissi.“ Putin mag sich die Hände reiben, die EU tut es nicht. „Es ist ein vergiftetes Geschenk, das die Russen den Georgiern mit der ersten Direktflug-Verbindung von Moskau nach Tiflis machen“, sagt ein Diplomat, „die Regierung sollte sich die Annahme noch einmal überlegen.“

Reiche Russen kaufen Land und entziehen sich dem Ukraine-Krieg

Mögen die EU, die Nato, der Westen überhaupt Georgiens Regierung kritisch beäugen, umgekehrt ist es genauso. Seit 2016 ist zwischen der EU und Georgien ein sogenanntes „Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen“ (SAA) in Kraft. Das gilt als Vorstufe zum EU-Beitritt. „Doch seitdem ziert sich die EU“, sagt Rainer Kaufmann. Der TV-Journalist aus Baden-Württemberg betreibt ein kleines Hotel in der Altstadt der seit dem vierten Jahrhundert nach Christus bezeugten Stadt und arbeitet für die Kaukasische Post, eine deutsch-georgische Monatszeitung. „Man muß auch die Regierung verstehen.“ Seit dem Kurzkrieg von 2008, in dem Georgien die abtrünnige Provinz Südossetien wieder eingliedern wollte, verlor die Kaukasusrepublik 20 Prozent ihres Staatsgebietes. Südossetien und wenig später Abchasien erklärten sich mit diplomatischer und militärischer Unterstützung Rußlands zu unabhängigen Staaten. Die erhoffte Hilfe aus dem Westen unterblieb.

45 Autominuten von Tiflis entfernt verläuft die Demarkationslinie, an der russische Soldaten patroullieren. „Georgien fühlt sich unter Druck gesetzt“, sagt Kaufmann. „Und man muß bedenken, die Menschen erleben hier wirtschaftliche Not, sie haben Existenzängste. Die Inflation steigt enorm seit dem Ukraine-Krieg, und sie sind abhängig von Rußland.“ So arbeiten einige Hunderttausend Georgier im nördlichen Nachbarland und finanzieren damit ihre Familien diesseits der Grenze. Auch die Sanktionen, meint Kaufmann, würden natürlich umgangen. „Die LKW – meist mit türkischen oder armenischen Kennzeichen – stauen sich am Kreuzpaß, der von Tiflis in Richtung Rußland führt.“

Doch im georgischen Volk gab es nie die herbeipropagandierte Bruderliebe Richtung Moskau. Im Gegenteil: Nach der Revolution in Rußland erklärte sich das älteste christliche Land der Erde am 26. Mai 1918 zur Demokratischen Republik. Als erster Staat erkannte das Deutsche Kaiserreich Georgien an und stationierte 3.000 Soldaten, um nach dem Abzug der russischen Truppen den Türken keine Möglichkeit zu bieten, das Land zu besetzen. Dann kamen die Engländer, die aber Auseinandersetzungen mit Rußland fürchteten und 1919 wieder abzogen. Am 11. Februar 1921 besetzte die Rote Armee Georgien. Enteignungen, die Teilung des Landes, viele Aufstände, die Stalin – selbst Georgier – blutig niederschlagen ließ, und 20 Jahre Säuberungen mit mindestens 30.000 Toten folgten.

Die Bolschewisten waren verhaßt. Jetzt, durch den Ukraine-Krieg, fliehen immer mehr Russen nach Georgien. Und die sind meist finanzkräftig, können jede Miete zahlen oder kaufen gleich ganze Häuser auf. „Wir nennen das die zweite Eroberung“, sagt  Daredschan M. Die erste war der Krieg von 2008.

Sie wohnt in einer sehr geschmackvoll mit Antiquitäten eingerichteten Dreizimmerwohnung im elften Stock eines Plattenbaus aus den 1970er Jahren. Jedes Zimmer hat einen Balkon. Doch der Kontrast zwischen Wohnung und Haus könnte nicht größer sein. Überall bröselt der Beton. Die Treppenhäuser sind heruntergekommen. Damit wenigstens der Fahrstuhl funktioniert, muß jeder Wohnungsinhaber eine Benutzungsgebühr zahlen, dafür erhält er einen Schlüssel und einen Zifferncode. In Georgien zahlen die Eigentümer nur für die Wohnung. Das Gemeinschaftseigentum, also Hausflur, Fassaden, Zufahrten, wird nicht instandgehalten. „Die Wohnung ist in den letzten zwei Jahren sehr im Preis gestiegen“, sagt Daredschan. „Sie hat jetzt einen Wert von 180.000 US-Dollar – wegen der Russen.“ Verkaufen und sich woanders niederlassen käme für sie aber trotzdem nicht in Frage.

„Dieser Wohnraumverlust ist enorm“, pflichtet Kartosia bei. „Jedes Wochenende demonstrieren unsere Studenten. Wir haben hier kein Mietrecht wie in Deutschland. Die Studenten müssen wegen der Mieterhöhungen die Wohnungen aufegeben, aber sie finden aufgrund der ständig steigenden Preise keine Zimmer.“ Ist es da ein Wunder, daß an vielen Hauswänden Parolen zu lesen sind wie: „Russia go home“, oder „Russia = Terrorist“? Es sind lateinische Buchstaben und keine des landeseigenen Alphabets. Damit eben auch Russen und Touristen wissen, wo das georgische Volk steht. Überall in der Stadt wehen, wie als Bekräftigung, georgische und EU-Flaggen.

Im März 2022 stellte die Kaukasusrepublik ihren Antrag auf EU-Mitgliedschaft und hofft, bald den Kandidatenstatus zu erlangen. „Derzeit zählt Georgien, neben dem Kosovo, zu den potentiellen Beitrittskandidaten“, meldet die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. In einem Interview mit der deutschsprachigen Monatszeitung Kaukasische Post sagte der deutsche Botschafter Ernst Peter Fischer, Deutschland habe ein starkes Interesse daran, daß Georgien Mitglied werde: „Vor dem russischen Angriffskrieg war Georgien weit entfernt von einer Perspektive auf EU-Mitgliedschaft.“ Sollte das Land vom potentiellen zum echten Beitrittskandidaten werden, muß es die Kopenhagener Kriterien erfüllen. Ein Beitrittskandidat muß die Ziele und Werte der EU teilen, eine nachhaltige pluralistische Demokratie sein und eine freie Marktwirtschaft besitzen.

Für Georgier sind Gäste ein Geschenk Gottes

Und da kommen wir wieder auf Richard Meckelein und finden einen Grund, warum er auch heute noch in Georgien so geehrt wird: weil er mit seinem Wörterbuch eine Verbindung zwischen der für westeuropäische Augen rundlich, fast indisch anmutenden Schrift zu lateinischen Buchstaben geschaffen hat, eine nicht zu unterschätzende Grundlage, den Hemmschuh unterschiedlicher Alphabete  für einen EU-Beitritt zu entschärfen.

Für das kleine Land ist das eine Herkulesaufgabe. War Georgien eine der wirtschaftlich florierendsten Sowjetrepubliken, brachen nach 1990 Massenarbeitslosigkeit, Hyperinflation, Bürgerkrieg und Korruption aus. Georgiens Problem war und ist die Abhängigkeit vom russischen Gas. Ab den 2000er Jahren erholte sich das Land. Der IWF und Deutschland gewährten Kredite, Georgien exportierte Wein und Gemüse. Doch der Druck aus Rußland führte erst zu einem Embargo, dann 2008 zum Krieg. Wegen der Corona-Pandemie bricht ab 2019 der Tourismus zusammen. Die Regierung enteignet internationale Investoren. Ein von den USA geplanter Tiefseehafen, 2,5 Milliarden US-Dollar Volumen, wird nicht gebaut. Für 2020 verringerte sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Georgiens um knapp zwei Milliarden auf 15,7 Milliarden US-Dollar. Die Arbeitslosenquote betrug fast 15 Prozent.

„Eines der größten Probleme Georgiens war die Korruption“, sagt Kaufmann, der Alltagskorruption sei aber bereits Micheil Saakaschwili, westorientierter Präsident von 2004 bis 2014, Herr geworden. Die Straßen der Hauptstadt sind heute in einem Zustand, der die Stoßdämpfer nicht gefährdet, die Nebenstraßen in den Altstadtvierteln lassen allerdings nach wie vor um die Achsen fürchten. Fehlende Beachtung der Straßenverkehrsregeln wird mit immerwährenden Hupkonzerten beantwortet. Von Barrierefreiheit für Fußgänger kann keine Rede sein.

Viele der Häuser aus dem 19. Jahrhundert sind marode. Liebenswert ist die georgische Gastfreundschaft, und sie ist wirklich kein Märchen. „Für Georgier sind Gäste ein Geschenk Gottes“, sagt Medizinstudentin Kati W, „und so werden sie empfangen“. Wir werden bei der Georgischen Akademie der Wissenschaften, der obersten Wissenschaftsbehörde, die hier im Land Verfassungsrang genießt und über den Universitäten steht, eingeladen. Nach dem offiziellen Empfang der Gäste aus Deutschland durch den Präsidenten der Akademie öffnen sich die Flügeltüren zu einem Sitzungszimmer, das zu einer Tafel georgischer Spezialitäten einlädt.

Die Bitte um eine kurze Erklärung, wie er das Verhältnis zwischen Georgiern und Deutschen beschreiben würde, beantwortet Kaufmann mit einer Anekdote. Zum Abschluß eines Germanistentreffens vor vielen Jahren unterzogen sich die Professoren beider Länder beim Abschlußessen einem Zweizeiler-Wettbewerb, mit dem sie das Verhältnis zwischen beiden Ländern charakterisieren sollten. Das Siegergedicht, eine „professoral-intellektuelle Höchstleistung“, geht ihm bis heute nicht aus dem Kopf: 

„Wir gehören zueinander wie Majoran und Koriander!“