© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/23 / 04. August 2023

Es fließt nicht nur Tomatensoße
Organisierte Kriminalität: Seit Jahrzehnten ist die italienische Mafia in Deutschland aktiv. Ihr Einfluß reicht bis in die Politik
Lorenz Bien

Es ist prinzipiell juristischer Alltag, daß Gerichte jemanden wegen Drogenkriminalität verurteilen. Mit etwa 300.000 erfaßten Fällen im vergangenen Jahr gehören Rauschgiftdelikte zu einem vergleichsweise fallstarken Feld der Strafverfolgung. Als jedoch das Amtsgericht Konstanz im Februar dieses Jahres den 48jährigen Salvatore G. zu einer Strafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilte, schrieb es gewissermaßen deutsche Kriminalgeschichte. Denn was dem Kellner eines Familienrestaurants aus Überlingen vorgeworfen wurde, waren nicht bloß Verstrickungen in Drogenhandel und Geldwäsche. Das Gericht sah vielmehr seine Mitgliedschaft in der kriminellen Vereinigung ’Ndrangheta als erwiesen an – der kalabrischen Mafia. Es ist offenbar das erste Mal, daß die ’Ndrangheta in Deutschland gerichtlich festgestellt wurde.

Für eine Organisation, die auf Heimlichkeit und Ungestörtheit angewiesen ist, sind das denkbar schlechte Neuigkeiten. Im Mai folgten Razzien in mehreren Bundesländern, parallel zu anderen europäischen Staaten. In Bayern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Thüringen und dem Saarland untersuchten mehr als tausend Beamte Wohnungen, Büros und Geschäftsobjekte und vollstreckten Haftbefehle. Die Aktion geschah beinahe exakt zwei Jahre nach der „Operation Platinum“, bei der deutsche und italienische Polizisten zeitgleich Razzien in Turin und am Bodensee durchführten. Daß dabei ausgerechnet das idyllische Schwabenländle im Fokus der Ermittler stand, war weder Zufall noch Ausnahme. Zusammen mit Thüringen gehört das ländliche Baden-Württemberg schon seit längerem zu einem sogenannten Hotspot der Mafia in Deutschland.

Dreh- und Angelpunkt internationaler Drogengeschäfte

Nach Angaben von Innenminister Thomas Strobl (CDU) lebten von den bundesweit namentlich bekannten Mafia-Mitgliedern mehr als 170 in dem Bundesland, dessen geographische Nähe zu Italien und Wirtschaftskraft es interessant für die ’Ndrangheta mache. Mittlerweile beinahe zu einer popkulturellen Figur ist dabei der Stuttgarter Pizza-

bäcker Mario L. geworden. Geboren 1956 in der kleinen süditalienischen Gemeinde Mandatoriccio, wanderte er später nach Deutschland aus und eröffnete etwa 1982 die Pizzeria „Da Mario“ im Stuttgarter Vorort Weilimdorf. Schnell etablierte sich das Restaurant als Stammlokal des örtlichen Bürgertums. Anwälte, Ärzte und Journalisten speisten neben Lokalpolitikern, angelockt von dem, von vielen als äußerst herzlich und gastfreundlich beschriebenen, Umgangston Marios. Dazu gehörte seit Sommer 1992 auch der spätere Ministerpräsident Baden-Württembergs und EU-Kommissar, Günther Oettinger (CDU). Den verband nach eigener Aussage bald eine tiefe persönliche Freundschaft mit „Mariuzzo“, wie der Pizzabäcker genannt wurde. Noch im selben Jahr spendete Mario L. Geld für den Parteitag der Union und sorgte dort für die Verpflegung.

Bereits kurze Zeit später wollte Oettinger davon allerdings nichts mehr wissen. Ein „Bekannter“ sei Mario L., von Freundschaft könne nicht die Rede sein. Da hatte ihn der seinerzeitige Stuttgarter Justizminister und Parteifreund Thomas Schäuble bereits informiert: Das Restaurant „Da Mario“ stehe im Verdacht, Dreh- und Angelpunkt internationaler Drogen- und Waffengeschäfte zu sein.

Mehrere hundert Gasthäuser sollen dabei seit Jahrzehnten unter der Kontrolle der Mafia stehen. Die klassische Schutzgeld-Methode wurde dabei schrittweise durch das raffiniertere System erzwungener Verkäufe ersetzt. Konkurrierenden Restaurants wurden dabei Güter wie Wein oder Pizzateig aufgezwungen, der bloße Hinweis, daß man aus Kalabrien stamme, reichte dabei häufig aus, um den Gaststättenbetreibern klar zu machen, was im Falle einer Absage drohte. Auf diesem Weg wurde nicht bloß Geld eingesammelt, auch die Warenkreisläufe gelangten so unter Kontrolle der ’Ndrangheta, die auf diesem Wege auch alternative Waren wie Kokain leichter zum Kunden bringen konnte. Obwohl Mario L. 1995 wegen Steuerhinterziehung eine Bewährungsstrafe erhielt, hatten die deutschen Ermittler offenbar Schwierigkeiten, das Ausmaß der Mafia-Aktivitäten vollends einzuschätzen. Und so war es auch schließlich die italienische Justiz, namentlich in Form des Staatsanwalts Nicola Gratteri, die dafür sorgte, daß L. im Jahr 2018 verhaftet und zu elf Jahren Haft verurteilt wurde. Die von deutschen Behörden geschätzte Zahl von 770 aktiven Mafiosi hält er dabei für zu niedrig – und vermutet alleine für die ’Ndrangheta etwa 3.000 Mitglieder in der Bundesrepublik.

Wirklich aufgeschreckt wurde die deutsche Öffentlichkeit allerdings erst im Sommer 2007, als beim sogenannten Duisburg-Massaker insgesamt sechs Mitglieder der ’Ndrangheta vor dem italienischen Restaurant „Da Bruno“ erschossen wurden. Der Auslöser der Bluttat soll nach Aussage der italienischen Polizei denkbar banal gewesen sein. 16 Jahre zuvor war eine Karnevalsfest im kalabrischen Dorf San Luca in eine Schlägerei zwischen den Familien Strangio-Nirta und Pelle-Romeo ausgeartet, wenige Tage später wurden der 20jährige Francesco Strangio und der 19jährige Domenico Nirta bei einem Hinterhalt erschossen. Die dadurch in den Gang gesetzte Fehde breitete sich schließlich bis nach Deutschland aus. Fünf der sechs Opfer waren nach Ansicht des italienischen Juristen Pietro Grasso dabei gezielt vor der Gewalt nach Deutschland geflohen. Das sechste Opfer, Marco Marmo, wurde von den Tätern offenbar verdächtigt, sieben Monate zuvor die Ehefrau eines Clan-Chefs ermordet zu haben. Die restlichen Anwesenden trugen schlicht den falschen Nachnamen.

Das Ende der Mafia-Aktivitäten in Deutschland war das Geschehen jedoch nicht. Den Inhaber des „Da Bruno“ zog es später nach Erfurt, wo er zwei weitere Restaurants eröffnete. Neben Baden-Württemberg weist tatsächlich auch der Freistaat Thüringen eine mittlerweile 30 Jahre alte Tradition an Mafia-Aktivitäten auf. Denn besonders die „schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen im Zusammenhang mit der nationalen Wiedervereinigung, die ab den neunziger Jahren stattfand, ermöglichten es den Mafiafamilien, die sich daraus ergebenden wirtschaftlichen Möglichkeiten optimal zu nutzen“, stellte die italienische Polizeibehörde Direzione Investgativa Antimafia (Anti-Mafia Untersuchungdirektion) in einem Bericht von 2018 fest.

In Erfurt hätten die Kalabrier mittlerweile eine Art „Monopol im Gaststättengewerbe“, betont der Journalist Jürgen Roth. Und ähnlich wie im Südwesten sorgten auch hier Verbindungen zur Politik für Schlagzeilen. Im April 2021 setzte das Thüringer Parlament schließlich einen Untersuchungsausschuß ein, der die Mafia-Ermittlungen von den1990ern bis in die 2000er Jahre untersuchen soll. Im Fokus steht dabei die Frage, wieso es 2006 zu einer abrupten Einstellung des von der Staatsanwalt Gera geführten Verfahrens gegenüber der Mafia, bekannt als Fido-Verfahren, kam. Der Vorwurf, es könnte „Verbindungen von Beschuldigten des Verfahrens zu Politik, Verwaltung oder Justiz“ gegeben haben, wird dabei offen formuliert.

Anzeichen gibt es dabei durchaus: Im Juni wurde bekannt, daß die Thüringer Generalstaatsanwaltschaft 2002 den Einsatz verdeckter Ermittler in Italien gezielt verhinderte. Der leitende Oberstaatsanwalt Steffen Flieger, der das damalige Verfahren führte, sagte vor dem Ausschuß aus, daß er den verdeckten Einsatz in Kalabrien bewilligt habe. Die ihm übergeordnete Thüringer Generalstaatsanwaltschaft habe sich anschließend allerdings für einen anderen rechtlichen Weg entschieden. Der verdeckte Ermittler mußte abgezogen werden. Auch andere operative Aktionen, wie das Abhören von Telefonaten, seien kurz darauf eingestellt worden.





’Ndrangheta, Camorra, Cosa Nostra

Ursprünglich bezog sich der Begriff „Mafia“ ausschließlich auf die sizilianische Cosa Nostra. Der seit dem 19. Jahrhundert aktive Zusammenschluß verschiedener Familien ist vor allem in ländlichen Gegenden Siziliens und Palermo ansässig. Er verdient sein Geld mit Drogenhandel, Schutzgelderpressung und Geldwäsche. Der genaue Ursprung des Wortes „Mafia“ ist dabei nicht eindeutig geklärt. Als populär gilt die Theorie, daß es dem sizilianischen Slang entstammt und „stolz“, „arrogant“, aber auch „mutig“ bedeuten kann. Später weitete sich die Bedeutung auf die ’Ndrangheta aus Kalabrien und die Camorra aus Neapel aus. Die Camorra ist dabei mutmaßlich das älteste der drei Phänomene und entstand bereits im 16. Jahrhundert. Anders als die Cosa Nostra ist sie allerdings keine Organisation im eigentlichen Sinne, sondern eher ein Sammelbegriff für verschiedene kriminelle Familien im Raum Neapel, die sich teilweise auch gegenseitig bekriegen. Etwa in der Mitte dieser beiden Pole liegt die ’Ndrangheta, die mittlerweile verstäkt feste Strukturen mit gewählten Repräsentanten und fest zugewiesenen Landstrichen ausbildet. Die in Deutschland operierenden Zweige werden dabei zentral aus Kalabrien gesteuert. (lb)