© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/23 / 21. Juli 2023

Der Flaneur
Nr. 6226 streikt
Elke Lau

Ein Termin in Berlin „Unter den Linden“ steht an. Wie immer verbinden wir den Ausflug mit einem Verwandtenbesuch und lassen das Auto gleich am Friedhof stehen. Es sind nur ein paar Minuten zum U-Bahnhof Tegel, aber hier sind alle Eingänge dicht.

„Ersatzverkehr Bus Linie 6“, klärt uns ein Passant auf. Also Fahrscheine besorgen. Es ist 9.30 Uhr, die Tür zum BVG-Infoladen öffnet sich automatisch. Der Mann hinter seinem  Computer schaut unwillig auf und blafft: „Publikumsverkehr ab 10 Uhr.“ 

Der Bus hält an der flexibel eingerichteten Station. Als ich bezahlen will, winkt uns der Fahrer durch. Also wieder kein Fahrschein. 

Am Kutschi steigen wir aus, Fahrkarten am Automaten erhältlich. Wir drücken bei Gerät Nr. 6226 die Touchscreen-Taste „4 Fahrscheine“, aber der Eingabeschlitz blinkt rot und unser Zehner wird nicht angenommen.

„Apparat kaputt“, stellt die Mitarbeiterin in holprigem Deutsch fest und bietet sich als Zeugin an.

Ich versuche es mit der Scheckkarte. Nachricht: „Bitte Karte entnehmen“, aber Fahrscheine werden nicht ausgespuckt. Begleiter Uli findet am Ende des Bahnhofs eine Info-SOS-Säule, die funktioniert nicht. Eine junge Bedienstete spaziert in der Nähe auf und ab und begleitet ihn bereitwillig. Sie stellt nach kurzer Überprüfung fest: „Apparat kaputt.“

„Was machen wir jetzt? Der Betrag wird abgebucht, und wir sind ohne Fahrschein.“ „Ich bin Zeugin“, verspricht die junge Frau in holprigem Deutsch und schreibt ihren polnisch klingenden Namen auf. „Wegen Geld müssen Callcenter anrufen.“

Der Zug fährt ein. Unsere Mitreisenden geben uns das Gefühl, ein Völkerkundemuseum zu besuchen. Menschen, karnevalsmäßig eingehüllt in bunte Laken, starren bewegungslos und mucksmäuschenstill auf ihre Mäusekinos. Figuren wie aus einem Wachsfigurenkabinett.

Obwohl mit dem Zettelchen notdürftig abgesichert, schaue ich bei jedem Halt ängstlich auf die Türen, ob uns ein Kontrolleur nach draußen winkt. Aber dann steigen wir unbehelligt „Unter den Linden“ aus. Nun wartet die nächste Herausforderung, das Callcenter. Hoffentlich hat Nr. 6226 bei der Abbuchung auch gestreikt.


Mit einer sehr lauten Stimme im Hals ist man fast außerstande, feine Sachen zu denken.

Friedrich Nietzsche (1844–1900)