© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/23 / 21. Juli 2023

Genossen bei der Verrichtung
Axel Honneth mahnt die Beschaffenheit der Arbeitswelt als Hypothek der Demokratie an
Erik Lommatzsch

Eine spannende These hat Axel Honneth in einer Fußnote der Einleitung versteckt. Hier heißt es, daß er dem bekannten Diktum von Ernst-Wolfgang Böckenförde widerspreche, wonach der freiheitliche, säkulare Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne. Honneth hingegen ist der Meinung, daß der demokratische Rechtsstaat mit seiner Schul- und Arbeitspolitik sehr wohl über „zwei Instrumente“ verfüge, mit denen er „seine eigenen kulturellen und mentalen Voraussetzungen zwar sicherlich nicht direkt garantieren, durch die er aber die Wahrscheinlichkeit ihrer Herausbildung gezielt erhöhen“ könne.

Die Idee insgesamt wird in den Überlegungen, die Honneth in „Der arbeitende Souverän“ anstellt, nicht weiterverfolgt. Der Autor, der für die „dritte Generation“ der „Frankfurter Schule“ steht, widmet sich der „wechselseitigen Abhängigkeit von demokratischer Partizipation und hinreichend guten Arbeitsbedingungen“. Besser gesagt den entsprechenden Defiziten und deren möglicher Behebung, sieht er doch ein Manko der vorherrschenden Demokratie darin, daß eine angemessene Beteiligung des Einzelnen stark von dessen Arbeit oder dem entsprechenden Umfeld abhängig sei. Eine „typische Ausgeburt der liberalen Fiktion“ sei es, daß alle Mitglieder einer Gesellschaft die gleichen Chancen zur Teilnahme an der demokratischen Willensbildung hätten. „Übersehen wird dabei in einer Mischung aus moralischem Idealismus und sozialer Ignoranz, daß es materieller, zeitlicher und psychischer Voraussetzungen bedarf, um die Rolle eines politischen Souveräns so selbstbewußt und angstfrei ausüben zu können, wie es die Idee der Demokratie verlangt.“

Honneth nähert sich seinem Thema an, indem er zunächst drei Traditionen des politischen Denkens beziehungsweise Paradigmen untersucht, die die Arbeitsverhältnisse in kapitalistischen Gesellschaften für fehlgeleitet halten. Da wäre zuerst die Entfremdungstheorie, bekannt geworden durch Karl Marx, die besagt, daß sich der Arbeiter durch die Art der Produktion nicht mehr mit dem von ihm Geschaffenen identifizieren könne. Dem zweiten Komplex, der unter dem Stichwort „Autonomie“ oder „republikanische“ Tradition präsentiert wird, liegt als Problem die Abhängigkeit des Beschäftigten von der willkürlichen Herrschaft von Unternehmern oder Vorgesetzten zugrunde. Die dritte Tradition schließlich, das „demokratische“ Paradigma, nimmt im Unterschied zu den beiden vorangegangenen nicht nur einen Aspekt in den Blick. Hier wird die gesellschaftliche Arbeit „als etwas verstanden, das um eines anderen, höherrangigen Zweckes als wertvoll gelten muß“. Das Ziel bestehe in einer „möglichst vollständigen und wirksamen Einbeziehung aller Gesellschaftsmitglieder in die Praktiken der demokratischen Selbstbestimmung“. Solange die Arbeit diesem Zweck nicht förderlich sei, gelte sie als unangemessen eingerichtet.

Faire Arbeitsverhältnisse seien die Pflichtaufgaben des Staates

Der Gedanke eines Zusammenhangs von verrichteter Arbeit und Teilnahme am politischen Leben sei nicht neu. So machte bereits Adam Smith eine derartige Beziehung aus, auch wenn es ihm wohl nicht um eine Revolutionierung der Arbeitsverhältnisse zu tun war. Bei Hegel, der den Markt ebenfalls hoch schätzte, komme der Vorschlag der Bildung von Korporationen hinzu, deren Aufgabe es sein sollte, „den gesellschaftlichen Wert der Arbeit hochzuhalten und ein Bewußtsein der wechselseitigen Abhängigkeiten aller am Markt Beteiligten zu stärken“. Über Emile Durkheim und den weniger bekannten G.D.H. Cole sei das Ganze weiterentwickelt worden. Honneth meint, es sei heute weitgehend vergessen, daß politische Demokratie zwingend auf die „Ergänzung durch gute und faire Arbeitsverhältnisse angewiesen“ sei. Die von ihm ansonsten geschätzten Denker Jürgen Habermas und John Rawls hätten den Fokus lediglich auf Gleichstellung und Gleichbehandlung gerichtet. Eine Formulierung von Harry Frankfurt variierend, erklärt Honneth dagegen, es komme viel stärker darauf an, „ob ein Arbeitsplatz überhaupt die Mitwirkung an demokratischen Praktiken erlaubt, als darauf, wie dieser Arbeitsplatz relativ zu anderen beschaffen ist“.

Fünf Dimensionen werden herausgearbeitet, die, ausgehend von der Beschaffenheit Auswirkungen auf die Möglichkeit zur demokratischen Mitwirkung haben beziehungsweise die diese beeinträchtigen. Es handelt sich um das Problem der wirtschaftlichen Abhängigkeit, die kein unbekümmertes politisches Agieren ermögliche und die Notwendigkeit von arbeitsfreier Zeit für das Engagement. Der dritte und der vierte Punkt hängen eng zusammen, Selbstwertgefühl entstehe vor Betreten der politischen Bühne, ebenso werden vorauslaufende Praktiken des sozialen Zusammenlebens eingeübt – für beides sei der Arbeitsplatz von entscheidender Bedeutung. Fünftens beeinflusse der Umfang und die intellektuelle Dichte der Arbeit die Fähigkeit zur politischen Teilhabe.

Mit einem historischen Parforceritt durch die „Wirklichkeit“ der gesellschaftlichen Arbeit der letzten 200 Jahre will Honneth den „Abgrund“ aufzeigen, „der sich in demokratischen Gesellschaften von Anfang an zwischen der sozialen Realität des kapitalistischen Arbeitsalltags und dem normativen Versprechen einer Einbeziehung der arbeitenden Bevölkerung in die öffentliche Willensbildung aufgetan hat“. Am Ende der Betrachtung stehen fünf Haupttendenzen der gegenwärtigen Arbeitswelt, die für eine „demokratieförderliche Organisation der gesellschaftlichen Arbeit“ nichts Gutes verheißen. 

Der Begriff der Arbeit im Sinne von sozial erforderlicher Tätigkeit ist bei Honneth sehr weit gefaßt, es handle sich um „alle regelmäßig ausgeübten Verrichtungen“, die „in einer Gesellschaft dazu beitragen, die gegebenen Lebensformen in ihren allgemein gewünschten Bestandteilen zu erhalten“. Die Schaffung „hinreichend guter, fairer Arbeitsverhältnisse“ zählt für ihn zu den „Pflichtaufgaben des Staates“. Um den beklagten Mißständen entgegenzuwirken, solle eine neue Arbeitspolitik neben marktvermittelter Lohnarbeit „alternative Formen der Organisation von gesellschaftlicher Arbeit“ etablieren. Produktionsgenossenschaften und selbstverwaltete Betriebe sollten die „andere“, die  „ergänzende Seite“ des Arbeitsmarktes sein. 

Wen aufgrund derartiger und ähnlich gelagerter Ausführungen bei der Lektüre zwischenzeitlich der Verdacht beschleicht, bei Honneths Buch könnte es sich um ein Werk aus einer länger zurückliegenden Epoche handeln, der wird durch die penetrant variierten Formen der „Gendergerechtigkeit“ – etwa den ausschließlichen und unsinnigen Gebrauch des Femininums oder die Doppelpunktversion, gern auf Kosten der Grammatik – immer wieder in die Gegenwart zurückgeholt. Keinesfalls aber, so der Autor, dürften die Maßnahmen, die die „gesellschaftliche Arbeit demokratiefähiger“ machen, mit „Erfordernissen des Klimaschutzes in Konflikt geraten“. So wichtig sind sie dann offenbar doch nicht.


Axel Honneth: Der arbeitende Souverän. Eine normative Theorie der Arbeit. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023, gebunden, 397 Seiten, 30 Euro


Bild: Herbert Strecha, „Menschen der Maxhütte“, Öl auf Hartfaser 1964: Unvollständige Einbeziehung der arbeitenden Bevölkerung in die öffentliche Willensbildung