© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/23 / 21. Juli 2023

Wenn nicht drinsteckt, was draufsteht
Kino: Der italienische Spielfilm „L’immensità – Meine fantastische Mutter“ beweist, daß Regenbogenpropaganda nicht plump sein muß
Dietmar Mehrens

Gebt mir ein Zeichen“, fleht Adriana Borghetti (Luana Giuliani) den Himmel an. Oder ist es das Universum? Jedenfalls fühlt die 12jährige sich wie von einem anderen Stern. Deswegen träumt sie auch davon, Astronautin zu werden oder wenigstens Astronomin. „Ist wichtiger, was in uns drinsteckt oder wie wir aussehen?“ ist eine der Fragen, die die Heranwachsende bewegen.

Nach und nach kommt der Zuschauer dem auf die Spur, was mit Adriana nicht stimmt: Sie fühlt sich als Mädchen falsch etikettiert, läßt sich deshalb Andrea nennen (was im Italienischen ein Jungenname ist) und hat sich eine Kurzhaarfrisur zugelegt. Adriana möchte gern ein Junge sein. Ihr kleiner Bruder Gino zieht sie damit auf. Die katholisch erzogene Schülerin hat es nicht leicht. Denn was Adriana heute zur Ikone der transformationstrunkenen Medien- und Kulturbranche machen könnte oder wenigstens zur Werbebotschafterin für Pubertätsblocker, ist im Rom der frühen Siebziger, wo Regisseur und Drehbuchautor Emanuele Crialese seine Geschichte spielen läßt, einfach nur schräg. 

Die Propagandabotschaft Zeichen für Zeichen entschlüsseln 

Man muß heutzutage schon dankbar sein, wenn ein Film aus der linken Kunst- und Medienblase auf das Publikum losgelassen wird, der sich wenigstens Mühe gibt, seine ideologisch verankerte Botschaft nicht platt-plakativ und plump-penetrant, sondern wenigstens einigermaßen künstlerisch verkleidet auf die Leinwand zu zaubern. Das ist Emanuele Crialese mit seinem sehr zurückhaltend inszenierten Familiendrama „L’immensità – Meine fantastische Mutter“ vorzüglich gelungen. Sein sensibles Porträt einer offensichtlich transsexuellen Minderjährigen und ihrer durch patriarchale Verhaltensnormen bedrohten Familie ist in Schauspiel und Bildsprache so stark, daß man auch dann beim Zuschauen keinen Groll verspürt, wenn man die Propagandabotschaft Zeichen für Zeichen zu entschlüsseln und ihr so gar nicht zuzustimmen vermag. Symbolisch aufgeladene Bilder gibt es in „L’immensità“ haufenweise: ein traditioneller katholischer Gottesdienst, der in Adrianas Fantasie von einer umjubelten Tanz- und Musikveranstaltung abgelöst wird; die Hostien, die sie massenweise vertilgt, um ihre Identitätsstörung zu bewältigen, was zur Folge hat, daß ihr übel wird: „zu viele Leiber Christi“, die leider gar nicht helfen; die streng nach Geschlecht getrennten schwarzen und weißen Gewänder, die die Schüler auf Adrianas katholischer Schule in einem wunderschönen Bild gemeinsam aus dem Fenster fliegen und so zusammenfließen lassen; das dunkle Verlies, in dem die Kinder sich verirren, während die Erwachsenen feiern. Der Kuß zwischen Adriana und dem mutmaßlichen Zigeunermädchen Sara, das sie auf ihren Streifzügen in die nähere Umgebung kennenlernt, kommt daher als die zarteste Versuchung, seit es LGBT-Propaganda im Film gibt. Selbst das Regenbogenbanner, das Erkennungszeichen der vereinigten Transformationslinken (das natürlich auch hier nicht fehlen darf), ist so raffiniert verfremdet, daß der Regisseur sich immer herausreden könnte, wenn er es müßte.

Neben Adriana ist die von Penélope Cruz hinreißend verkörperte Clara, die Mutter von Adriana, Gino und ihrer kleinen Schwester Diana, die prägende Gestalt des Films. Läßt die Pubertierende sich verstehen als Allegorie für die gegenwärtige Trans-Bewegung, steht Clara für den historischen Prozeß der Emanzipation und feministischen Befreiung in der Ära, der die italienisch-französische Koproduktion ihre Reverenz erweist. Nur mit ihrer Mutter, einer modernen, weltoffenen und unverkrampften Frau, die in vielem der Mutterfigur in Steven Spielbergs „Die Fabelmans“ (JF 11/23) gleicht, kann Adriana offen reden. Und tut das auch. Irgendwann in der Mitte des Films wirft sie ihr vor: „Du und Papa habt mich falsch gemacht.“ 

Das betroffene Kind erscheint dabei nicht als Pantschen-Lama eines neuen Zeitalters, sondern als gesundheitlich angeschlagene Verunsicherte: Adriana leidet an Asthma und wie alle ihre Geschwister unter dem Streit, den der Vater (Vincenzo Amato), ein skrupelloser Ehebrecher, immer wieder in die Familie hineinträgt. Im zerstörten Vaterbild kann der Zuschauer, im Einklang mit der wissenschaftlichen Forschung zur Gender-Dysphorie, einen Schlüssel zum Verständnis des Syndroms finden, unter dem das Mädchen leidet. Wer letzten Endes schuld an dieser Zerstörung ist, ein zügelloses Patriarchat oder ein zügelloser Sexualtrieb, da dürfen die Einschätzungen von Zuschauern und Filmemachern durchaus verschieden ausfallen.