In einem früheren Sommerhit piepst Inga Humpe, Sängerin des Elektropopduos 2raumwohnung, die Refrainzeile „36 Grad und es wird noch heißer/ Mach den Beat nie wieder leiser/ 36 Grad, kein Ventilator/ Das Leben kommt mir gar nicht hart vor.“ Gefühlt heißer, in jedem Fall aber deutlich lauter und härter geht es vergangenen Samstag beim Rammstein-Konzert im Berliner Olympiastadion zu, für das ich dankbarerweise noch Karten bekommen konnte. Zwar habe ich erst vor einem Jahr an gleicher Spielstätte eines der spektakulären Konzerte der Rockband erlebt (Streifzüge vom 10. Juni 2022). Aber inmitten des seit Wochen anhaltenden medialen Overkills wegen unbewiesener möglicher sexueller Übergriffe des Sängers Till Lindemann (und neuerdings auch des Keyboarders Christian „Flake“ Lorenz) sowie angesichts der Petitionen und Proteste gegen die Auftritte konnte es für mich nur heißen: Jetzt erst recht!
Aufreger auf dem Weg dorthin sind die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG). Nicht wegen ihres notorisch schlechten Services, sondern weil sich die Anstalt des öffentlichen Rechts erdreistet, Zehntausende von Rammstein-Fans zu diskreditieren und auszugrenzen. Auf Twitter postet das landeseigene Unternehmen: „Zurück! Zurück bleiben! Zurück bleiben, bitte!“ Darunter das Foto einer Straßenbahn mit dem Text: „Falls ihr keinen Bock mehr auf Konzerte am Wochenende im Olympiastadion habt, präsentieren wir euch die Alternative: Tramstein“. In Anspielung auf die Rammstein-Shows folgt eine Aufzählung: „günstige Tickets“, „kann auch etwas heißer werden“, „mechanischer Sound“. Was für eine perfide Stimmungsmache und bodenlose Frechheit!
Für Aufsehen sorgt Till Lindemann mit einer vom Originaltext abweichenden Liedzeile.
Die Entschädigung folgt auf dem Fuße abends im Stadion. Nach dem Intro vom Band mit Georg Friedrich Händels Feuerwerksmusik startet die Heilige Messe mit dem „Rammlied“: „Wer wartet mit Besonnenheit/ Der wird belohnt zur rechten Zeit/ Nun, das Warten hat ein Ende/ Leiht euer Ohr einer Legende.“ Gänsehaut pur! Oder mit einem Wort des Schweizer Schriftstellers Tom Kummer, der kürzlich für die Weltwoche ein Rammstein-Konzert im Berner Wankdorf-Stadion literarisch reflektierte: Überwältigungskunst. Die setzt sich in den folgenden rund zwei Stunden fort. „Links 2-3-4“, „Mein Herz brennt“, „Puppe“ – später fängt die Bühnenkamera für die Video-leinwand Szenen aus dem Publikum ein, auf denen Fans Schilder hochhalten mit dem Bekenntnis „Wir halten euch die Treue“. Für Aufsehen sorgt Till Lindemann dann mit einem kleinen selbstironischen Verweis auf die Medienberichterstattung über ihn. In dem Lied „Angst“ heißt es eigentlich: „Und die Furcht wächst in die Nacht/ Tür und Tore sind bewacht/ Die Rücken naß, die Hände klamm/ Alle haben Angst vorm schwarzen Mann“. Live singt der Frontmann davon abweichend: „Alle haben Angst. Vor Lindemann.“ Bisher hat sich Till Lindemann zu den Vorwürfen gegen ihn nur über seine Anwälte geäußert und alle Anschuldigungen als unwahr zurückgewiesen. In dem vorletzten Lied des Abends heißt es unter tosendem Applaus: „Und ich will, daß ihr mir vertraut/ Ich will, daß ihr mir glaubt“.