Verrat bedeutet“, so formulierte Milan Kundera einmal, „aus der Reihe zu tanzen und ins Unbekannte aufzubrechen.“ Der Schriftsteller, der am 11. Juli im Alter von 94 Jahren gestorben ist, ist eigentlich immer aus der Reihe getanzt, aber nur einmal in seinem Leben in dieses Unbekannte aufgebrochen: 1975, als er seine tschechische Heimat – und später auch die tschechische Sprache – verließ, um nie zurückzukehren.
Als „französischen Tschechen“ bezeichnet die „Deutsche Welle“ Kundera anläßlich dessen 90. Geburtstages und bescheinigt ihm, ein „imposantes Werk in zwei Welten und Sprachen kreiert“ zu haben. Durch Kundera haben Leser weltweit erfahren, daß tschechische Ärzte bevorzugt ins Waschbecken urinieren und daß „Scheiße ein schwierigeres theologisches Problem als das Böse“ ist, weil alle Welt so tue, als existiere sie nicht. Kitsch aber wiederum sei die absolute Verneinung der Scheiße.
Mit Kitsch und Scheiße kann der Alltag in der längst untergegangenen realsozialistischen Tschechoslowakei ebenso beschrieben werden wie in ihren Nachbarländern Ungarn, Polen und der oberspießigen Deutschen Demokratischen Republik. Die Menschen all dieser Staaten eint das Trauma, daß ihre Hoffnungen auf eine demokratische Zukunft unter den Panzerketten der Roten Armee zermalmt wurden, in der DDR 1953, in Ungarn und Polen 1956, in der CSSR 1968.
Keiner hat so vollendet die menschliche Ebene des Endes des Prager Frühlings beschrieben wie Kundera seine Geschichte über die Rückkehr Alexander Dubčeks nach seiner kurzeitigen Verbringung nach Moskau: „Diese schrecklich langen Pausen, als er nicht mehr atmen konnte und nach Luft rang, vor dem ganzen Volk, das mit den Augen am Bildschirm hing, diese Pausen werden bleiben. In diesen Pausen lag das ganze Entsetzen, das sich schwer auf das Land gelegt hatte.“
Nach dem Prager Frühling wird Kundera zur Unperson
Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings ist in den sozialistischen Satellitenstaaten der Sowjetunion nichts mehr so, wie es zuvor war. „Der Krieg genießt seinen Frieden“, dichtet der damals noch in Ost-Berlin ansässige Liedermacher Wolf Biermann über das Ende der „Prager Kommune“. Milan Kundera läßt seinen Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ vor dieser Kulisse spielen. Ein Werk, das 1984 erscheint und seinen Autor quasi über Nacht weltbekannt macht.
Kundera hat zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Metamorphosen durchgemacht. Geboren am 1. April 1929 im mährischen Brünn als Sohn eines bekannten Pianisten und Musikhochschulprofessors, beginnt er schon als Gymnasiast Gedichte zu schreiben. Kundera wird Mitglied der Kommunistischen Partei und darf an der Prager Karls-Universität Musik und Literatur studieren, dann Regie und Drehbuch an der Akademie für Musik und Dramatik. In Konflikt mit der noch auf Stalin eingeschworenen Staatsmacht gerät er, als er einen Funktionär verspottet. Wegen „Machenschaften gegen die Partei“ wird er aus dieser ausgeschlossen und verliert seinen Studienplatz.
Kundera arrangiert sich mit dem System. So dichtet er 1955 das Poem „Es war der letzte Mai“, in dem er den Opfergang des von den Nationalsozialisten hingerichteten Kommunisten Julius Fučík preist. „Der Scherz“, in dem er seinen Ausschluß aus der Partei aufarbeitet, erscheint 1964, „Das Buch der lächerlichen Liebe“ in mehreren Teilveröffentlichungen zwischen 1963 und 1968. Da ist Kundera bereits mit der höchsten literarischen Auszeichnung der CSSR (1964) geehrt worden. Als Staatspreisträger darf er 1967 auch wieder Mitglied der Partei werden.
Dann aber verändert der Prager Frühling und dessen Niederschlagung alles. Der Reformkommunist Kundera wird zur Unperson, verliert seine Dozentenstelle an der Filmhochschule, seine Bücher werden nicht mehr verlegt und aus den Bibliotheken entfernt. Seine Abrechnungen mit der eigenen kommunistischen Vergangenheit „Das Leben ist anderswo“ (1969/70) und „Abschiedswalzer“ (1970/71) dürfen nicht erscheinen.1970 wird Kundera erneut und diesmal endgültig aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen.
Als dem zum Schweigen verurteilten Schriftsteller 1975 eine Stelle als Dozent an der Universität Rennes angeboten wird, verläßt er mit seiner Ehefrau, der Fernsehansagerin Vera Hrabánková, seine Heimat. Es folgt drei Jahre später eine Dozentur an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Im selben Jahr erscheint sein Roman „Das Buch vom Lachen und Vergessen“, eine Abrechnung mit dem tschechoslowakischen Kommunismus. Unter anderem der Satz, „der Kampf des Menschen gegen die Macht sei der Kampf des Gedächtnisses gegen das Vergessen“, trifft das Regime so sehr, daß es Kundera die Staatsbürgerschaft entzieht.
Franzose wird Kundera 1981 und schreibt fortan in der Sprache seines Aufnahmelandes. 1984 erscheint mit „L’Insoutenable Légèreté de l’être“ jener Roman, der den Schriftsteller weltberühmt macht – eine vielschichtige Liebes- und Exilgeschichte, eine Dreiecksbeziehung zwischen dem Chirurgen und späteren Fensterputzer Tomas, der Kellnerin Teresa und der Malerin Sabine, in der menschliche Abgründe, Hoffnungen und Verrat tief ausgelotet werden und zu der Kundera Sätze einfallen wie: „Soll die Liebe unvergeßlich sein, so müssen sich vom ersten Augenblick an Zufälle auf ihr niederlassen wie die Vögel auf den Schultern des Franz von Assisi.“
Kundera sei ein „subtiler Thesenschriftsteller“, schreibt der Hamburger Publizist Jürgen Serke im November 1984 im Spiegel, ein „Verführer im Zauberreich des Möglichen, das bei ihm immer in der Katastrophe endet, und der Illusionen, weil da nichts in seinen Erzählungen ist, was über das Leben hinausweist“.
Plötzlich liegt ein Buch vor, das speziell für die DDR-Bürger wie ein Spiegel wirkt, um das Leben im sozialistischen Nachbarland als auch das eigene zu erkennen, auch wenn Böhmen und Mähren immer wieder verwoben werden mit dem Lieblingsland der tschechischen Emigration, der freiwilligen wie erzwungenen, Frankreich.
Mit seinen Büchern wollte er Spuren hinterlassen
Damit ist aber auch Kunderas Geschichtsaufarbeitung beendet. Die folgenden Romane „Die Unsterblichkeit“ (1990) und „Die Langsamkeit“ (1995) kritisieren die westeuropäische Zivilisation.
Wird Kundera in seiner Heimat durch sein 1969 erschienenes „Das Buch der lächerlichen Liebe“ bekannt, so wird sein Welterfolg „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ erst 2006 ins Tschechische übertragen, also 22 Jahre nach der Ersterscheinung. Die neue tschechische Republik bleibt Kundera fremd, er selbst gilt weiterhin als unbequemer Exilant: „Wegen der Dissidenten, die an die Macht gekommen waren und uns haßten“ seien sie nach der Samtrevolution nicht nach Tschechien zurückgekommen, erklärt Kunderas Frau 2019. Zu seiner ursprünglichen Heimat habe der Schriftstellers ein Verhältnis gepflegt, das „mit schwierig noch vorsichtig umschrieben ist“, so „Radio Prag“.
Kunderas größter Wunsch bleibt es bis zuletzt, „als Mensch annulliert zu werden und keine andere Spur zu hinterlassen als die gedruckten Bücher“. Daß Kundera (auch) als tschechischer Staatsbürger stirbt, verdanken die Tschechen Andrej Babiš. Der ist als Regierungschef persönlich nach Paris gereist, um dem Schriftsteller anläßlich dessen 90. Geburtstages die Staatsbürgerschaft anzutragen. Und auch Kundera setzt am Ende auf Versöhnung. Seine Bibliothek und sein Archiv vermacht er der Mährischen Landesbibliothek. „Das bedeutet Frieden, aber auch Wehmut mit einem endenden Leben“, so seine Ehefrau Vera: „Doch das Ende gehört dorthin, wo es begonnen hat. Und das ist in Brünn.“
Milan Kundera: Die Unerträglichkeit des Seins. Roman. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 1988, broschiert, 384 Seiten, 13 Euro