© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/23 / 21. Juli 2023

Mehr Wettbewerb wagen
EU-Politik: Eine denkbare Alternative zum Leitantrag zur Europawahlversammlung der AfD / Föderaler Staatenbund?
Dirk Meyer

Eine „geordnete Auflösung der EU“ strebt die AfD-Bundesprogrammkommission (BPK) in ihrem Leitantrag zur Europawahl 2024 nicht an. Das sei ein „redaktionelles Versehen bei der Präambelerstellung ohne Beschlußlage der BPK“ gewesen, heißt es im aktuellen Antragsbuch zur Wahlversammlung Ende Juli in Magdeburg. Stattdessen heißt es nun: „Wir wollen eine neue europäische Wirtschafts- und Interessengemeinschaft gründen, einen Bund europäischer Nationen.“ Eine EU-Auflösung wäre nicht nur schwierig in der Umsetzung (JF 27/23). Sie wäre ökonomisch mit hohen, dauerhaften Einkommensverlusten verbunden, weil so auch der EU-Binnenmarkt auf Basis geltender Prinzipien abgeschafft würde.

Schließlich wäre der Plan auch politisch bedenklich, indem er die Supranationalität der EU mit eigenständigen Organen wie dem Europaparlament und dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) ablehnt. Supranationalität – als Leitprinzip zwischen Staatenbund und Bundesstaat – ist nicht nur zum Schutz des Binnenmarktprinzips und im Zweifel zum Schutz der Bürger und Unternehmen gegenüber dem eigenen Mitgliedstaat notwendig. Es befördert auch das politische Gewicht der europäischen Einheit auf internationaler Ebene. Der Brexit mit einem Verlust des britischen Bruttoinlandsproduktes (BIP) um 5,2 Prozent pro Jahr gibt ein deutliches Negativbeispiel eines Austritts. Doch wie will man neben eine supranationale EU einen föderalen Staatenbund stellen?

Alle EU-Mitgliedstaaten müssen den Änderungen zustimmen

Die Grundidee des Bundes europäischer Nationen will Handlungsoptionen zurückverlagern, um nationalen Eigenheiten mehr Rechnung zu tragen und Bürokratie abzubauen. Einher geht die Aufkündigung der Transferunion, das heißt keine fiskalischen und monetären Rettungsschirme, keine EU-Schulden mit Gemeinschaftshaftung und keine Bankenunion – wobei eine EU-weite Bankenregulierung und -aufsicht aufgrund der Verflechtungen durchaus Sinn ergeben können. Zudem soll die Währungsunion aufgelöst werden.

Wie könnte das AfD-Ansinnen aber zu geringeren Kosten bei höherem Nutzen umgesetzt werden? Ein Gegenentwurf würde auf einen Rückbau per Vertragsänderung (Artikel 48 EU-Vertrag) setzen. Das hätte den Vorteil eines geordneten Verfahrens. Sowohl graduelle wie auch grundlegende Änderungen wären möglich. Das Problem besteht in der Einstimmigkeit – alle EU-Mitgliedstaaten müssen zustimmen. Aufgrund seiner Target-Forderungen im Euro-System (1.069 Milliarden Euro) hat Deutschland eine denkbar schlechte Verhandlungsposition, könnte aber als größtes Land mit einem Austritt zu Lasten aller drohen. Denn es gilt, je größer das Land, desto geringer sind die eigenen Austrittskosten gemessen am BIP-Verlust.

Erstens muß ein Instrument gefunden werden, um den Interessen der Mitgliedstaaten besser Rechnung zu tragen. Hier bietet die Reformulierung der „Verstärkten Zusammenarbeit“ (Artikel 20 EUV) einen Ansatz. Bislang war diese nur in Bereichen der „geteilten Zuständigkeit“ (Artikel 4 AEUV) zwischen der EU und den Mitgliedern möglich. Vorausgesetzt, die Integration wird damit vorangetrieben und mindestens neun Mitgliedstaaten machen mit. Jedoch könnte zum einen auch eine gewisse Desintegration den Zusammenhalt der EU stärken, zum anderen können bereits zwei Staaten ein spezielles Anliegen haben, dem sich nach einer Experimentierphase andere anschließen mögen. Um die Staaten-Souveränität zu stärken, sollte überdies die Genehmigung der EU durch ein begründetes Widerspruchsrecht ersetzt werden (Artikel 329 AEUV).

Zweitens ist der EU-Binnenmarkt (Artikel 26 AEUV) aufrechtzuerhalten – mit dem Ursprungslandprinzip, nach dem jedes nach inländischen Standards produzierte Gut in jeden EU-Staat exportiert werden darf. Den Rahmen bilden EU-Mindestvorgaben, so daß gefährliche Importe generell ausgeschlossen werden können. Gegenüber dem Ziellandprinzip des Leitantrages gewährt nur diese Vorgehensweise ein Höchstmaß an Wettbewerb und verhindert Handelshemmnisse. Schließlich gehen über die Hälfte der deutschen Exporte in die 26 anderen EU-Länder.

Drittens sollte das EU-Parlament nicht abgeschafft werden. Ähnlich dem deutschen Bundesrat ist es eine Staatenkammer, deren nationale Stimmengewichte nicht im Verhältnis zur Zahl der Einwohner gewichtet sein müssen. Allerdings hat Deutschland 96 Sitze, Malta sechs – entsprechend vertritt ein EU-Abgeordneter 875.000 bzw. 90.000 Einwohner. Hier könnte man auf eine Angleichung drängen. Dies gilt ebenso hinsichtlich des für die Geldpolitik wichtigen EZB-Rates, in dem jedes der 20 Euro-Mitglieder eine Stimme hat, obwohl Deutschland einen Kapitalanteil von etwa 26 Prozent besitzt.

Die Währung ist ein vierter reformbedürftiger Komplex. Die geforderte „Wiedereinführung nationaler Währungen“ setzt eine Rückholung der Währungssouveränität aus dem Bereich der „ausschließlichen Zuständigkeit“ (Artikel 3 AEUV) der EU zu den Mitgliedstaaten voraus. Denkbar wäre eine Neuauflage des Europäischen Währungssystems (EWS 1979) mit festen, aber anpassungsfähigen Wechselkursen innerhalb einer festen Bandbreite. Da dieses System spekulationsanfällig war, könnte eine zwei- oder dreigeteilte Währungsunion auf Basis flexibler Wechselkurse die bessere Lösung darstellen. Das grundsätzliche Problem hierbei ist die Überführung der auf Euro lautenden Forderungen und Verbindlichkeiten.

Ein Währungskorb aller Euro-Staaten oder Parallelwährungen

Eine denkbare Lösung bietet hier ein Währungskorb aller Euro-Mitgliedstaaten, die ihre neuen Währungen gemäß dem EZB-Kapitalschlüssel oder besser: gemäß ihrem BIP-Anteil in diesen Währungskorb legen würden. Der deutsche Währungsanteil würde demgemäß 26,1 bzw. 28,9 Prozent betragen. Dies würde einen Interessenausgleich zwischen den Schuldnern abwertender Länder (Gefahr der Zahlungsunfähigkeit) und den Forderungsinhabern aufwertender Staaten (Wertberichtigungsbedarf) bewirken. Eine Möglichkeit wären auch nationale Parallelwährungen zum Euro. Hier würde letztlich der Währungswettbewerb entscheiden.

Schließlich muß fünftens das Target-System einer Lösung zugeführt werden, bei dem für Deutschland 39 Prozent des gesamten Netto-Auslandsvermögens auf dem Spiel stehen. Ein Kompromiß könnten eine jährliche Rückführung von einem Zehntel der Schulden und eine Verzinsung der Forderungen gemäß eines Leitzinskorbes der Notenbanken darstellen. Eine „Auflösung der EU“ ist angesichts der geschilderten Probleme tatsächlich keine Alternative. Eine „europäische Wirtschafts- und Interessengemeinschaft“ auf supranationaler EU-Basis ist jedoch durchaus denkbar.




Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. 2002 erschien sein Buch „Europäische Union und Währungsunion in der Dauerkrise (Springer Fachmedien).