Wo ist er bloß hin, der gute alte Schutzmann? Das war der Polizist, der in einem langen weißen Mantel und Mütze auf einem Podest auf der Kreuzung stand und einem Zirkusdompteur gleich, dem ungeregelten Straßenverkehr etwas Ordnung beibrachte. Heute sehen wir Schutzpolizisten ausschließlich in blauer Uniform. Ausgerüstet mit Weste, Schußwaffe, Schlagstock, Handschellen, Handschuhen und Funkgerät am Gürtel, sieht er eher aus, als marschiere er in einen Kriegseinsatz. Ist das polizeiliche Gegenüber denn der neue Feind? Vom Freund und Helfer ist nicht mehr die Rede. Viele in Politik, Wissenschaft und Medien kennen nur noch einen Schlachtruf: All Cops are Bastards! Und genau das wird zur Gefahr. Nicht nur für die Beamten, sondern für die gesamte Gesellschaft.
„Das Hauptproblem ist die politische Schiene“, sagt Dirk Weidenbach, stellvertretender Landesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft (DpolG) in Thüringen, gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. „Die Polizei ist immer der Prügelknabe“, sagt der Hauptkommissar. „Greift sie durch, ist es schlecht, tut sie es nicht, ist es das ebenfalls.“ Weidenbach kann als Gewerkschafter offen reden, viele seiner Kollegen dürfen das nicht. Sie müssen Sanktionen des Dienstherrn fürchten. „Die Antifa kann seit Jahren im luftleeren Raum agieren“, sagt Weidenbach. „Nur wenn der Politik nichts anderes mehr übrigbleibt, geht sie, eben auch mit der Polizei, gegen links vor.“ Meist bleibe sie damit dann aber trotzdem allein. „Die Versammlungsbehörde zum Beispiel lehnt sich zurück und wartet ab. Dabei könnte sie im Vorfeld schon aktiv werden. Die Polizei kann nicht abwarten, sonst ufert solch eine Demonstration aus.“
Im Verfassungsschutzbericht des Jahres 2021 heißt es: „Im Kampf gegen den bei Linksextremisten verhaßten Staat ist die Polizei das zentrale Feindbild gewaltorientierter Linksextremisten.“ Und weiter: „Gegen ihre Einsatzkräfte, Fahrzeuge und Einrichtungen richten sich mit Abstand die meisten linksextremistischen Gewalttaten.“ Das sind 560 Gewaltdelikte durch Linksextremisten gegen die Polizei. Darunter 182 Körperverletzungen, 15 Brandstiftungen und 241mal Widerstand gegen die Beamten und eine versuchte Tötung. „Aus Sicht von Linksextremisten steht dabei jede verletzte Polizeikraft für eine Schwächung des ‘Repressionsstaates’ und gleichzeitig für eine Demonstration der eigenen Stärke.“ Das sei nicht zuletzt eine Verletzung der Menschenwürde.
„Ohne Frage kommt es zu Übergriffen von Polizisten“
„Sieben Jahre lang begleitete ich Demonstrationen“, sagt ein anderer Beamter, der anonym bleiben will, der JF. Er ist im gehobenen Dienst, arbeitet im Streifendienst, Zwölf-Stunden-Schichten. Das Spiel war immer das gleiche: Rechte meldeten Demonstrationen an, Linke „begleiteten“ dann diese Aufzüge. „In den ganzen Jahren habe ich vielleicht eine Handvoll Gewaltstraftaten durch Rechte erlebt, der Rest waren Propagandadelikte“, sagt der Beamte. „Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich verharmlose nicht im geringsten rechte Gewalt, aber ich würde mich freuen, wenn in den Medien einmal korrekte Darstellungen zu lesen wären. Eben auch über das Gewaltpotetial auf der Linken.“ Linke würden weniger pöbeln und trinken, sagt er. „Die werfen gleich mit Steinen und Flaschen.“ Und diese Parolen wie „Ganz Berlin haßt die Polizei“? „Das hören wir gar nicht oder blenden es aus.“ Man stumpfe auch ab, sagt er. Linke seien für die Beamten enorm herausfordernd. „Die sind hoch organisiert. Die halten über Handys Kontakt. Manche haben Funkgeräte dabei. Die wissen, wo wir stehen.“ Ein Netz von Spähern macht das möglich. Sie sind außerhalb der Demonstrationen postiert, geben Standortmeldungen der Beamten im Sekundentakt via Twitter, aber auch in geschlossenen Chat-Gruppen von WhatsApp und Telegram durch. Er ist während solcher Demonstrationen selbst verletzt worden. „Aber zum Glück niemals schwer, einmal hatte ich ein angebrochenes Jochbein.“
Die Gewalt gegen Polizisten nehme zu, sagt auch Weidenbach. „Unsere Gewerkschaftsmitglieder sind über den Deutschen Beamtenbund und die Rechtsschutzversicherung abgesichert. Wir nehmen eine eindeutige Steigerung von Fällen wahr.“ Das bestätigen die Zahlen aus dem Bundeskriminalamt. Für 2021 führte es folgende Statistik zu Gewalttaten gegen Polizeivollzugsbeamte aus: 2021 stieg im Bundesgebiet die Zahl der Gewalttaten gegen Polizisten, Sanitäter und Feuerwehrbeamte um 689 Fälle im Vergleich zum Vorjahr. Das sind bei 39.649 Fällen über 1,8 Prozent zusätzlich. Stärker noch wuchs die Zahl der Polizisten, die dabei zum Opfer der Angriffe wurden, um 3.795 auf 88.626 an.
Dem gegenüber stehen durchschnittlich 12.000 Verdachtsfälle unrechtmäßiger Polizeigewalt jedes Jahr, so errechnete die Universität Bochum in einer Forschungsarbeit. Geleitet wurde die bisher nur in Teilen veröffentlichte Studie von Professor Tobias Singelnstein. In den Augen der taz sind Singelnstein und seine Mitarbeiter „ein unabhängiges Forscher:innenteam“. Im Klappentext des Buches heißt es: Die Polizei. Helfer, Gegner, Staatsgewalt. Mangelnde Fehlerkultur und Transparenz, Gewalt und Rassismus prägten die Arbeit der Polizei. Lösungsansätze seien etwa die Entwaffnung der Polizei und die Entkriminalisierung der Tatverdächtigen.
Heute ist die Bekämpfung der „stinknormalen“ Kriminalität die Aufgabe des Beamten, erklärt der anonyme Hauptkommissar. Geht es um häusliche Gewalt, wollten die meisten Männer erst diskutieren. „Wenn sie merken, daß es zur Anzeige kommt und sie die Wohnung verlassen müssen, wird gepöbelt. Die sind dann zwar verbal aggressiv gegenüber uns, aber das ist selten strafrechtlich relevant.“ Über Verkehrsdelikte berichtet er aus dem Alltag folgendes: „Klingt seltsam, aber viele kleine Verkehrsunfälle genieße ich richtig. Das sind meistens ganz normale Menschen.“ Zur Drogenkriminalität: „Heutzutage trinken die Felgenreiniger, dann sind die total weg.“ Macheten, Messer und Schußwaffeneinsatz sind zwar nicht alltäglich, aber konfrontiert wurde der Beamte damit ebenfalls. Schutzpolizisten sind die ersten, die um Hilfe gebeten werden. Oft als erste am Tatort, fungieren sie als Blitzableiter. Vielfach werden sie mit Vorurteilen empfangen. „Kontrolliere ich Deutsche, sagen die: Klar, mit uns Deutschen kann man es ja machen. Kontrolliere ich Schwarze, sagen die zu mir: Nazi oder Gestapo.“ Außer den beiden Begriffen könnten sie dann aber meist kein Deutsch. Syrer oder Ukrainer sagten so etwas hingegen nicht.
Müßten hier nicht sofort Beleidigungsanzeigen folgen? „Himmel, nein“, winkt der Beamte ab. „Das hebt einen nicht mehr an.“ Es hätte wohl auch gar keinen Zweck, meint er. „Die Justiz verfolgt das nicht. Ich erlebte einmal, wie auf mich und einen Kollegen im Wagen ein 20 Kilo schwerer Gegenstand geworfen wurde. Der Täter wurde gefaßt. Das hätte man ja auch als versuchten Mord werten können, es wurde daraus eine versuchte gefährliche Körperverletzung.“ Und er versteht auch warum: „Die sind doch ebenfalls total überlastet. Es fehlt auch in der Justiz an Personal.“ In einem Gefängnis in seinem Bundesland sei der jüngste Mitarbeiter 57 Jahre alt.
„Ohne Frage kommt es zu Übergriffen von einzelnen Polizisten“, gibt Weidenbach unumwunden zu. „Es wäre absolut falsch, das zu verneinen. Aber es ist kein strukturelles Problem innerhalb der Bundes- und Landesbehörden.“ Der schwarze Donnerstag in Stuttgart am 30. September 2010 ist einer der herausragendsten Fälle eines Versagens der Polizei in der Geschichte der Bundesrepublik. An dem Tag sollte Polizei aus Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz, Hessen und Nordrhein-Westfalen sowie der Bundespolizei den Schloßpark räumen und absperren. Im Zuge des Ausbaus des bis heute umstrittenen unterirdischen Bahnhofes in Stuttgart (Projekt „Stuttgart 21“) sollte mit Baumfällungen begonnen werden, um den Aufbau des Grundwassermanagements zu ermöglichen.
Umgang mit Corona-Protesten härter als mit Linksextremisten
Als Parkschützer, Stuttgarter Bürger und auch Schüler morgens von der Räumung hörten, eilten sie in den Schloßpark. Daraufhin kam es zu überaus brutalen Übergriffen durch Beamte, die von Smartphones und TV-Kameras domentiert sind. Auch bei der Nachbearbeitung wurden bis hin zur Einsatzleitung Falschaussagen gemacht. So münzte der damalige Innenminister von Baden-Württemberg Kastanien in Steine um. Die von der Polizeiführung besprochene Gewalt ging nicht von den Demonstranten aus, sondern von den Beamten. Doch solche Manipulationen gehen nicht vom einzelnen Polizisten aus. Dahinter stehen politische Motive. „Dieser sogenannte schwarze Donnerstag belegt den Satz: Je größer der Einsatz, desto politischer ist er, desto höher ist der Dienstgrad des Einsatzleiters und desto weiter weg ist der von der Praxis“, kommentiert der anonyme Hauptkommissar.
Der vielbehauptete Korpsgeist, der Straftaten innerhalb der Polizei deckt, sei eher eine Sage denn Realität. Denn durchaus zeigten einzelne Polizisten ihre Kollegen wegen unangemessenen Verhaltens an. Mehrere Beamte wurden zu Haftstrafen verurteilt. Zwei Untersuchungsausschüsse folgten dem staatlichen Vorgehen bei „Stuttgart 21“. Schließlich endete die CDU-geführte Landesregierung.
Übergriffe auf friedliche Bürger gab es ebenfalls während der Corona-Demonstrationen. Oder Verfolgungsjagden durch Parkanlagen – wer erinnert sich nicht an diese Bilder aus Hamburg? Aber die waren ebenfalls von der Politik gedeckt, oder wurden stillschweigend hingenommen.
Der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für Folter, der Schweizer Rechtsprofessor Nils Melzer, war im Sommer 2021 auf Videos aus Deutschland aufmerksam gemacht worden. Sie zeigten das Vorgehen von Polizisten gegen friedliche Bürger, die gegen die Corona-Politik der Bundesregierung protestierten. Melzer wählte einige Videos aus und forderte von der Bundesregierung eine Stellungnahme.
In einem Interview mit der Welt sagte er im April 2022: „Zahlreiche Szenen zeigten Polizisten, die eindeutig exzessive Gewalt einsetzten, während die umstehenden Beamten einfach zuschauten oder sogar mithalfen. Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, daß es sich nicht um Einzeldelikte handelt, sondern bereits um eine Kultur der Toleranz für Polizeigewalt.“
Auf den Demonstrationen waren viele Frauen und ältere Menschen. Die Videos zeigten, wie sie von Polizisten auf den Boden gedrückt wurden, wie ihnen mit den Fäusten in den Rücken geschlagen wurde. Die Regierung, aber auch einzelne Polizeipräsidenten, mit denen er konkrete Fälle besprach, zeigten sich uneinsichtig. Melzer hatte auch nach der Anzahl von Polizisten gefragt, gegen die seit 2020 wegen ihres Verhaltens auf den Demonstrationen ermittelt wurde, so die Zeitung – es war einer. Demgegenüber wurden gegen hunderte Demonstranten Bußgelder verhängt. „Hier wird offenbar mit zweierlei Maß gemessen“, kommentierte Melzer dieses Vorgehen.
Der Umgang mit den Demonstranten auf den Corona-Protesten war ungleich härter als der Umgang mit Linksextremisten am 1. Mai. „Die Beamten sehen die Bürger nicht mehr nur als schutzbedürftige Zivilisten, sondern immer auch als potentielle Feinde“, sagte Melzer. Diese Haltung sei angesichts der sehr realen Terrorgefahr zwar nachvollziehbar, gleichzeitig aber auch sehr gefährlich. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis die Bevölkerung ihrerseits die Polizei als Feind wahrzunehmen beginne.
Polizei und Medien – ein schwieriges Verhältnis. „Es gibt Journalisten, aber auch Zeitungen, mit denen rede ich nicht“, sagt Weidenbach und setzt hinzu, „nicht mehr. Da habe ich schlechte Erfahrungen gemacht.“ Vielleicht werden von der Presse Dinge einfach falsch verstanden? Auch Journalisten dürfen Fehler machen. „Ja“, sagt der ungenannte Polizist, „dürfen sie, aber die Unschuldsvermutung, die scheint für uns Polizisten nicht zu gelten. Und das ist das Problem“, ergänzt er. „Diese Vorverurteilung verschärft unser Image in der Gesellschaft. Vor kurzem erlebte ich, wie ein Vater zu seinem Sohn sagt: Schau, da kommt ein Polizist. Wenn du nicht gehorchst, nimmt der dich mit.“