Kann man „aus Versehen“ aus der EU austreten? Der AfD könnte dieses Kunststück auf ihrem Parteitag Ende Juli in Magdeburg für die kommende EU-Wahl 2024 gelingen. So findet sich im Leitantrag der unzweideutige Satz „Wir streben daher die geordnete Auflösung der EU an und wollen statt ihrer eine neue europäische Wirtschafts- und Interessengemeinschaft gründen, einen Bund europäischer Nationen“. Das sahen allerdings offenbar nicht alle Partei-Granden so. Also zog die Bundesprogrammkommission die Notbremse und reichte einen Änderungsantrag zum Leitantrag des Bundesvorstands ein, in dem die Austrittsforderung still und leise beerdigt wird. Begründung: „Redaktionelles Versehen bei der Präambelerstellung ohne Beschlußlage.“ Doch wie so oft dürfte das nur die halbe Wahrheit sein. Denn hinter den Kulissen wird über dieses Thema durchaus kontrovers diskutiert. Insbesondere Partei- und Fraktionschefin Alice Weidel soll nach Informationen der JUNGEN FREIHEIT Bauchschmerzen mit einem Austritt haben. Auch so mancher West-Landeschef winkt bei der Forderung ab.
Bisher hat die AfD es vermieden, sich bei dieser Frage allzu deutlich zu positionieren. Im Grundsatzprogramm heißt es: „Sollten sich unsere grundlegenden Reformansätze im bestehenden System der EU nicht verwirklichen lassen, streben wir einen Austritt Deutschlands, beziehungsweise eine demokratische Auflösung der Europäischen Union und die Neugründung einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft an.“ Im Programm zur vergangenen Bundestagswahl hieß es dazu dann schon konkreter, die Partei sei zur Erkenntnis gekommen, „daß sich unsere grundlegenden Reformansätze in dieser EU nicht verwirklichen lassen“. Ergo sei ein Austritt aus der Staatengemeinschaft „notwendig“. Zwischendurch sprach sich die AfD dann auch mal dafür aus, die Bürger über einen EU-Austritt, den „Dexit“, abstimmen zu lassen. Legt man ihre bisherigen Papiere zugrunde ist die AfD also für eine Reform der EU, hält diese zugleich aber für gescheitert und fordert den Austritt, will dazu aber vorher die Bürger befragen – oder eben nicht. In Magdeburg wird sich die Partei nun – erneut – festlegen müssen.
Klarer ist die Sache beim Euro. Hier fordert die Partei seit langem die Schaffung einer neuen „Deutschen Mark“. Und was ist mit der Nato-Mitgliedschaft? Kritik am Militärbündnis gehört mittlerweile zur DNA vieler Spitzenpolitiker – in unterschiedlichen Facetten. Im Vorfeld machte eine Falschmeldung der Welt die Runde, in der es hieß, die AfD strebe einen Nato-Austritt Deutschlands an und dies werde auch von Landesvorsitzenden aus dem Westen gefordert. Die allerdings winken gegenüber der JF reihenweise ab. „Ich kenne diesen Antrag nicht, und ich habe ihn auch nicht unterzeichnet“, sagt einer. Es gibt ihn auch nicht. Was es allerdings gibt, ist ein Gegenentwurf zur Präambel des Leitantrags. Ausgearbeitet hat ihn maßgeblich der für seinen eher rußlandfreundlichen Kurs bekannte Bundestagsabgeordnete Matthias Moosdorf. Er ist härter formuliert. Spricht von „globalistischen Eliten“, die die EU dominierten. „Mit der Osterweiterung der EU im Nachgang zur Nato erlangten die USA vielmehr einen noch tiefgreifenderen Einfluß auf die europäische Ordnung. Die Länder Europas werden so in Konflikte hineingezogen, die nicht die ihren sind und ihren natürlichen Interessen – fruchtbaren Handelsbeziehungen im eurasischen Raum – diametral entgegenstehen.“
Dicke Überraschung bei den potentiellen AfD-Wählern
Angestrebt wird ein „unabhängiges europäisches System kollektiver Sicherheit“ – von einem Austritt aus der heftig kritisierten Nato ist allerdings keine Rede. Unterschrieben wurde er unter anderem vom nordrhein-westfälischen Landesvorsitzenden Martin Vincentz, seinem bayerischen Kollegen Stephan Protschka, dem niedersächsischen Vorsitzenden Frank Rinck und dem Thüringer Landeschef Björn Höcke. Eine für AfD-Verhältnisse bunte Mischung. In der AfD-Spitze geht man ohnehin nicht davon aus, daß es einen Beschluß zum Nato-Austritt geben könnte. Es gibt auch keinen Antrag, der ihn fordert, und die Fristen zur Einreichung sind längst verstrichen. Diskutiert werden wird das Thema wohl dennoch – schon weil es polarisiert.
Doch was wollen eigentlich die Wähler der AfD? Und was denken Bürger, die mit dem Gedanken spielen, künftig die AfD zu wählen? Die JF hat das Meinungsforschungsinstitut Insa beauftragt, abzufragen, wie die Bürger zu einem Austritt Deutschlands aus der EU, der Nato und dem Euro stehen. Klar ist, befragt man alle Bürger, gibt es für keine dieser Forderungen eine Mehrheit. Jeweils 62 Prozent lehnen die Abkehr von der Nato und der EU ab, bei der Gemeinschaftswährung sind es 69 Prozent. Ausdrücklich für einen Austritt aus EU und Nato sprechen sich 23 Prozent aus, beim Euro sind es rund 16. Der Rest machte keine Angaben oder antwortete mit „weiß nicht“.
Die AfD-Wähler selbst sind in diesen Fragen erstaunlich gespalten. Nur für den Austritt aus der EU und der Nato gibt es leichte Mehrheiten. Beim Militärbündnis sprechen sich 53 Prozent der aktuellen AfD-Wähler für einen Austritt aus, 32 Prozent sind dagegen. Für einen EU-Austritt sprechen sich rund 51 Prozent der AfD-Anhänger aus, abgelehnt wird er von 32 Prozent. Eine faustdicke Überraschung gibt es beim Euro-Austritt. Obwohl die Kritik an der Gemeinschaftswährung überhaupt erst zur Gründung der Partei führte, haben offenbar viele AfD-Wähler ihren Frieden mit dem Euro gemacht. 37 Prozent sind für einen Ausstieg, eine relative Mehrheit von 47 Prozent will ihn behalten. Ausgerechnet also bei der am wahrscheinlich umsetzbarsten Austrittsforderung bekommt die Partei keine Mehrheit bei den eigenen Anhängern zusammen.
Selbst in den östlichen Bundesländern, inklusive Berlin, wollen alles in allem nur 21 Prozent den Euro wieder abgeben. Ein umgekehrtes Bild ergibt sich bei den potentiellen AfD-Wählern. Sie sind das Pfund, mit dem insbesondere die AfD derzeit öffentlich wuchern kann. Sie sind mehrheitlich gegen den Austritt aus der Nato (55 Prozent dagegen, 31 Prozent dafür) und der EU (50 Prozent dagegen, 29 Prozent dafür). Einen Austritt aus dem Euro lehnen sogar 67 Prozent der potentiellen AfD-Wähler ab, nur 16 Prozent sprechen sich dafür aus. Verglichen mit anderen Leib- und Magen-Themen der Partei zeigt sich selbst die Kernwählerschaft der AfD also erstaunlich polarisiert. Bei der Frage nach einer Einwanderungsbegrenzung etwa kann die AfD regelmäßig Zustimmungswerte von mehr als 90 Prozent unter den eigenen Anhängern verbuchen und greift dabei auch in die Wählerschichten der anderen Parteien aus. Dies ist bei den Austrittsfragen kaum möglich. Lediglich mit den Anhängern der FDP, bei denen 25 Prozent einen Nato-Austritt, 22 Prozent einen EU-Austritt und 19 Prozent einen Euro-Austritt befürworten, gibt es signifikante Übereinschneidungen.
Viel Zeit wird die Partei für diese Grundsatzdebatten nicht haben. An zwei Wochenenden, Ende Juli und Anfang August, will die Partei nicht nur das Programm beschließen, sondern auch noch die Kandidaten für das EU-Parlament wählen. Derzeit kann die AfD mit rund 25 gut bezahlten Mandaten in Brüssel rechnen. Spätestens auf den hinteren aussichtsreichen Listenplätzen werden viele ihr Glück versuchen. Nicht unwahrscheinlich also, daß die Delegierten große Austrittsdebatten vermeiden und sich weitgehend hinter den Leitantrag stellen, statt ihn zum Leidantrag zu machen.