Wenn zu Bonner Zeiten von Paderborn die Rede war, hieß es oft, die katholische Region sei der „Wahlkreis vom lieben Gott“. Rainer Barzel, der Willy Brandt unterlegene CDU-Chef, holte hier Zwei-Drittel-Mehrheiten, und der seit 2009 stets wiedergewählte CDU-Politiker Carsten Linnemann zog regelmäßig mit über 50 Prozent der Erststimmen in den Bundestag ein. 2021 waren es „nur“ noch 47,9 Prozent. Für die schon lange nicht mehr erfolgsverwöhnte CDU war das dennoch ein Rekordwert.
Jetzt soll Linnemann, der das vergangene Jahrzehnt als Chef des Mittelstands- und Wirtschaftsflügels seiner Partei verbracht hatte, die CDU wieder mit Leben erfüllen. Parteichef Friedrich Merz holte den 45jährigen Volkswirt als neuen Generalsekretär an seine Seite.
Sein Vorgänger Mario Czaja war zu blaß geblieben, die Parteizentrale war unter seiner Ägide mehr Verwaltung denn gestaltendes Element. Czaja sollte mit seiner Ost-Herkunft der CDU in den neuen Ländern zu neuer Blüte verhelfen, da Merz bis heute mit dem Osten fremdelt und manchen als „Besserwessi“ gilt. Stattdessen mußte Czaja den Absturz der Partei moderieren und stand dem Aufstieg der AfD ratlos gegenüber. Zuletzt versuchte er es mit Diskussionsverweigerung.
Linnemann ist Herausgeber einer islamkritischen Schrift
Das alles soll Linnemann jetzt besser machen. Sein großer Vorteil im Berliner Polit-Komplex: Er ist nie um eine Antwort verlegen, oft sogar schlagfertig. Er vermißt die sachliche Debatte: „Wenn ich als Politiker Profil zeige, werde ich weniger mit Gegenargumenten als mit dem erhobenen Zeigefinger konfrontiert. Es ist also kein Wunder, wenn sich immer mehr Politiker aus allen Parteien diesem Druck entziehen wollen und unterordnen. Wir zensieren uns selbst.“
Gegen Selbstzensur und Unterordnung erhebt er regelmäßig die Stimme. Seine Positionen sind in der CDU selten geworden, sieht man von der weitgehend bedeutungslos gewordenen Mittelstands- und Wirtschaftsunion ab.
Medien wie der Spiegel bezeichnen Linnemann als „Hardliner“, in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion stehen vielleicht noch zwei Dutzend Abgeordnete an Linnemanns Seite, wenn er fordert, „daß künftig kein Geflüchteter mehr ohne positiven Asylbescheid in die EU einreisen kann“ oder wenn er Kinder nur in die Grundschulen aufnehmen will, wenn sie ausreichend Deutsch können. Linnemann ist Herausgeber einer Schrift mit dem Titel: „Der politische Islam gehört nicht zu Deutschland“. Zuletzt sagte er der Bild am Sonntag mit Blick auf die grassierende Gewalt in deutschen Freibädern: „Wer mittags im Freibad Menschen angreift, muß abends vor dem Richter sitzen und abgeurteilt werden.“
Hiebe gegen die politische Klasse auszuteilen, ist sein Steckenpferd. Linnemann ist für die Verkleinerung des Bundestages, für die Beschneidung des Beamtenapparats und eine Reduzierung der EU auf ihre Kernaufgaben. Die Europäische Zentralbank, die in der CDU mit der Euro-Einführung einen Heiligenschein bekam, geht Linnemann hart an: „Die EZB betreibt mit ihrer Geldpolitik illegale Staatsfinanzierung. Das darf nicht länger hingenommen werden.“ Solche Sätze hört man sonst nur noch von der AfD.
Er streitet gegen die auch in seiner Partei inzwischen hochgehaltene Frauenquote, lehnt die Grundrente ab, preist den Vater der sozialen Marktwirtschaft, Ludwig Erhard, als Vorbild und tritt für einen wehrhaften Staat ein. Dieses Profil will er auch der CDU wiedergeben: „Die Menschen schätzen uns mehr, wenn wir zehn deutliche und feste Positionen haben, selbst wenn sie nur die Hälfte teilen, als wenn wir gar keine Positionen zeigen.“ Daher war er 2016 in der Ausländerpolitik gegen den „Doppelpaß“, den Kanzlerin Angela Merkel auf einem Parteitag beschließen lassen wollte. An der erfolgreichen Organisation einer Mehrheit gegen Merkels Projekt war Linnemann nicht ganz unschuldig.
So wortgewaltig er politisch auftritt, sein Privatleben läßt Linnemann privat. Man weiß, daß seine Eltern eine Buchhandlung hatten und er als Bankier weltweit im Einsatz war, ehe es ihn in die Politik zog. Jetzt soll Linnemann, „der letzte Ordnungspolitiker der CDU“ (Neue Zürcher Zeitung), für mehr Bewegung in einer träge gewordenen Partei sorgen. Als Vorsitzender der Programmkommission mußte Linnemann erleben, daß es auf von ihm einberufenen Regionalkonferenzen kaum Diskussionen gab, allenfalls Selbstbeweihräucherung.
Merz sendet mit der Entscheidung ein Signal an die Parteilinken
Merz hat mit dem jungen Generalsekretär
Linnemann ein Zeichen gegen die CDU-Ministerpräsidenten Hendrik Wüst (Nordrhein-Westfalen) und Daniel Günther (Schleswig-Holstein) gesetzt, die mit einer Kopie grüner Politik versuchen, die CDU der Zukunft zu verkörpern. Grün raus – Marktwirtschaft rein, soll dagegen die Botschaft der Personalie Linnemann werden.
Damit ist das nächste Problem beschrieben: Wenn die Umfragen so ähnlich bleiben wie derzeit und wenn selbst eine Große Koalition ohne Mehrheit wäre, würde Merz nur mit Hilfe der Grünen Kanzler werden können. Die Strategie des Parteivorsitzenden sieht daher wohl so aus: Mit Linnemann nach rechts blinken und laut hupen, tatsächlich aber den Anbiederungskurs an den grünen Zeitgeist unauffälliger als bisher fortsetzen.
Die „Brandmauer“ zur AfD ist außerdem Grundgesetz für Merz und Linnemann. Das Problem: In den neuen Ländern hat diese Mauer an vielen Stellen morsche Fundamente und könnte einstürzen. Kooperationen der CDU mit der AfD könnten beginnen. Das wiederum könnte
Spaltungskeime in der Union wachsen lassen. Daß das nicht passiert, wird die größte Herausforderung für Linnemann, der mit Worten allein nicht beizukommen sein wird.