Mit dem Einzug meiner Frau zog mein Bücherregal aus dem Schlafzimmer aus. Zwangsweise. Es wurde durch einen Flachbildfernseher ersetzt. Erlaubt war künftig lediglich ein Buch als Bettlektüre. Es war der Anfang eines beharrlichen Kleinkriegs um bücherfreie Zonen, die sich ständig vergrößerten. Mein geplanter, alle Probleme lösender Befreiungsschlag, der Einbau einer Bücherwand, scheiterte am lautstarken Protest. Damals kannte ich den weisen Spruch von Schauspielerin Emilia Clarke noch nicht: „Vertraue nie jemandem, dessen Fernseher größer ist als sein Bücherregal.“
Die Bücher wanderten also in Kisten und diese in den Keller. Das Regal folgte. In Einzelteilen. Immerhin, eine Auswahl blieb in einem schmalen wandhohen Regal im Flur stehen, gerade mal tief genug für eine Bücherreihe, und seltsamerweise sind die Bücher, die mal an der vorderen Kante standen, im Verlauf der Zeit geschlossen um mehrere Zentimeter nach hinten gewandert. Sie haben Platz gemacht für Erinnerungsstücke davor: Fotos, Münzen, Schneckenhäuser, Schnitzereien. Meine Schwester schaut bei Besuchen voller Mitleid auf meine Frau und das Regal – sie ist längst auf den Kindle-EBook-Reader umgestiegen.
Wie aber können Bücher aus Papier, in denen man richtig blättern, Zettel reinstecken und wichtig Erscheinendes unterstreichen kann, aus der Mode kommen? Dieses Lesen mit allen Sinnen. Aber Beharrlichkeit zahlt sich aus. Das Bücherregal ist zurück, sogar in seiner XXL-Variante als Bücherwand. Und damit bin ich Trendsetter.
„Bücherwände sind wieder en vogue“, sagt Anita Simeon, Chefredakteurin der Fachzeitschrift Ideales Heim. Diese seien „Ausdruck von Bildung und Wissen“. Na also, ganz meiner Meinung. Ich könnte die Frau knutschen. Die aber verweist auf den Corona-Lockdown und das überall eingezogene Homeoffice. Bei den Videokonferenzen seien plötzlich auffallend viele Bücherregale und Bücherwände zu sehen gewesen. Nach dem Sofa und dem Bett ist das gängigste Möbelstück in einer Wohnung „eine Art Bücherregal“, heißt es auch auf RoyalDesign.de: 2023 sehe man, „wie das Bücherregal neue Formen annimmt und ganz selbstverständlich ein Teil der modernen Wohnung“ wird. Und auch auf der Internetseite von Schöner Wohnen steht: „nichts macht ein Zimmer wohnlicher als ein raumhohes Regal mit Büchern.“
Kombiniert mit hippen Wohnkonzepten
Die Stuttgarter Innenarchitektin Irina Geringer bestätigt die neueste Entwicklung, eingebettet in die beliebten Lifestyle-Trends wie „Hygge“ oder „Slow Living“. In Distanz zu Geringer läßt mich allerdings deren Vorschlag gehen, Bücherregale mit einem minimalistischen Stil zu verbinden, in dem beispielsweise Bücher in weißes Papier eingebunden werden, so daß „alles völlig gleich und clean aussieht“. Sterile Bücherregale? Arztpraxis, Labor?
In welchem Zimmer ist es schon gemütlich, wenn man nicht aus dem Regal ein Buch ziehen kann, um darin zu blättern und sich irgendwann festzulesen, das Rotweinglas in Reichweite. Aber auch wenn es meine Frau „hyggelig“ mag, eine Bücherwand kommt ihr nicht ins Wohnzimmer. Immerhin wird der verglaste Bücherschrank vom Großvater nicht in Frage gestellt. Und natürlich ist das Regal im Flur im Grunde genommen eine kunstvolle Inszenierung: über die Jahrzehnte so zur Perfektion gereift, daß kaum Veränderungen vorgenommen werden und ganz, ganz selten etwas aussortiert wird, um einer Neuentdeckung Platz zu machen.
Allerdings gehen in letzter Zeit mit dem Regal Veränderungen vor sich. Nicht nur daß der Nippes offenbar mal auf dem dritten, mal auf dem vierten, dann wieder auf dem zweiten Bord steht, auch die Bücher scheinen zu wandern. Immer öfter greife ich fehl, weil Bücher falsch stehen. Das hat was mit dem Alter zu tun. Nicht mit meinem, sondern mit dem meiner Tochter. Denn wenn diese sicher ist, daß Vater die Wohnung verlassen hat, beginnt sie auszusortieren, Büchertürme zu bauen, und meine Frau hat dann zu tun, alles vor meiner Rückkehr zurück in Reih und Glied zu stopfen.
Unlängst war ich zu früh oder sie zu spät, und ich konnte sie überführen. Ein Hoffnungsschimmer. Der Nachwuchs interessiert sich für Bücher. Und sollte das kleine Fräulein einmal Klimaretter werden, habe ich mir schon ein Argument zurechtgelegt, das mir vielleicht als Greis eine Bücherwand beschert – oder mir diese trotz böser Papierschwendung sichert. Natürlich entliehen aus einem Buch; der Aphoristiker Georg Skrypzak notiert in seiner Manuskriptsammlung „Diesseits und jenseits von Kalau“: „Ein Ökofreak hielt meine vollen Bücherregale für Wärmedämmung. Ganz unrecht hatte er nicht.“
Zum aktuellen Trend gehört leider auch, daß Designer empfehlen, die Bücher – beginnend mit hellen Einbänden – nach Farben zu sortieren, und Innenarchitekten anbieten, eine Wohnung inklusive Bücherregal von A bis Z auszustatten, entweder mit Fake-Büchern oder laufenden Metern aus dem Secondhand-Buchladen. Die „Bildungsbürgertapete“ wird so tatsächlich zum dekorativen Fake.