Der Feldhase (Lepus europaeus), würde der Ansicht von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nicht zustimmen, heute im besten Deutschland zu leben, das es je gab. Das Vorbild unseres Osterhasen würde seinen Widerspruch in scheinbar paradoxer Weise mit dem Hinweis auf die kümmerliche „Strecke“ von jährlich 200.000 geschossenen Artgenossen begründen. Selbst auf dem kleineren Territorium der Bonner Republik waren es bis in die 1970er Jahre hinein noch alljährlich zwei Millionen. Doch nur in der anthropozentrischen Mitleidsoptik bedeuten weniger tote Hasen, daß es der Art gut geht. Tatsächlich ist es umgekehrt: Nur große Strecken zeigen umfangreiche und damit gesunde Bestände an.
Daher kommt Wilhelm Bode in seinem „Porträt“ Meister Lampes, das der frühere Leiter der saarländischen Forstverwaltung in der Reihe „Naturkunden“ des Verlages Matthes & Seitz veröffentlicht hat, zu einem bedrückenden Fazit: Eine „Hasendämmerung“ sei noch nicht angebrochen, aber es bestehe Grund zur Sorge. In den Mittelgebirgen ist der Hase so gut wie verschwunden. In Gegenden intensiver Feldwirtschaft, im gesamten Raum zwischen Oldenburg und Greifswald, existieren Populationen von durchschnittlich nur fünf Exemplaren pro Quadratkilometer, in der Magdeburger Börde, früher optimal besetztes Habitat, sind es zehn Tiere, zu wenig, um sie traditionell zu bejagen.
Nicht ein Opfer der Jagd, sondern der industriellen Agrarwirtschaft
Dicht vor dem Aussterben stehe die Spezies damit immer noch nicht, da sie selbst bei der extrem geringen Dichte von weniger als einem Hasen pro Quadratkilometer überleben könne. Vorausgesetzt, diese letzten Mohikaner würden nicht vergiftet oder maschinell zermalmt. Bode, Jahrgang 1947, Jurist und Forstwissenschaftler, der schon als Jugendlicher leidenschaftlich gern auf Hasenjagd ging, hat vor vierzig Jahren aufgehört, auf die Tiere zu schießen. Er sei sich schäbig vorgekommen, an Treibjagden teilzunehmen, auf denen je 35 Schützen, Treiber und Hunde abends nur maximal fünf Hasen zur Strecke legten. „Konsequente Zurückhaltung“ sei darum für jeden Jäger heute das Gebot der Stunde.
Doch Bode macht nicht die Jägerschaft für den Bestandsniedergang verantwortlich. Den Hauptschuldigen sieht er vielmehr in der industriellen Agrarwirtschaft, für die nach 1945 die Weichen gestellt wurden. Seit den 1950ern orientierte sich die deutsche und westeuropäische Agrarpolitik am Grundsatz des „Wachse oder Weiche!“, der zur Entstehung riesiger, mit schwersten Maschinen bearbeiteter Ackerflächen führte. Hasen, die in dieser verarmten Kultursteppe überleben, verlieren seitdem in den wenigen Tagen der Ernte ihren gesamten, ohnehin extrem einseitigen Lebensraum und müssen ihn verlassen, um nicht auf offenem Feld zu verhungern. „Und nicht selten sind unerfahrene Junghasen unmittelbar grausam zerstückelte Opfer dieser rasant und effektiv arbeitenden Monstermaschinen oder ihrer zahlreichen natürlichen Feinde, denen sie auf offenem Feld eine leichte Beute sind.“
Den Beginn des traurigen Schlußaktes agrarpolitischer Fehlentwicklung glaubt Bode exakt auf 1974 datieren zu können, dem Jahr der Markteinführung des Breitbandherbizids namens „Round-up“. Der Name, übersetzt: Rundumschlagen, verspricht nicht zuviel. Das auf der Basis des Glyphosats vollflächig wirksame Gift räumt mit den Pflanzenschädlingen rückstandsfrei auf. Es tötet aber zugleich sämtliche Beikräuter der Feldfrüchte und verarmt die Kulturlandschaft wie nichts zuvor. Die Vernichtung des Beikrauts entzog nicht nur dem Hasen, sondern auch Bienen, Schmetterlingen, Insekten und dadurch auch Lurchen, Singvögeln und Kleinsäugetieren die Lebensgrundlage.
Es lasse sich nicht bestreiten, räumt Bode ein, daß eine schleichende, direkte Vergiftung „unserer Hasen“ durch Agrarpestizide bislang nicht nachgewiesen sei. Aber unbestreitbar sei, daß der drastische Rückgang der Populationen eine indirekte Folge der durch Umweltherbizide verursachten Lebensraumvernichtung in Richtung Agrarsteppe ist. Deren Einsatz markiert für den aus einem konservativ-katholischen Milieu stammenden Bode den „Tiefpunkt der verlogenen Agrarpolitik“ der einstigen Volksparteien CDU und SPD, die sie seit den vergangenen 45 Jahren hauptsächlich zu verantworten gehabt hätten.
Selbstredend könne die „verfehlte EU-Agrarpolitik“, mit leichten Zugeständnissen an den ökologischen Landbau, auf diesem Pfad weiter voranschreiten. In der industriellen Agrarwirtschaft hat der Hase keine Funktion, sie kann ohne ihn produzieren wie bisher. Verzichten könne man auf ihn auch als Fleischlieferanten. Zumal zur Zubereitung Erfahrung in der Wildküche gehöre, über die nur noch wenige Hobbyköche verfügten. Der Beitrag des Hasen zur Volksernährung, der schon immer marginal war, schrumpft ohnehin stetig. Lag er 1925 bei 200 Gramm, sind es jetzt acht Gramm pro Kopf und Jahr.
„Intensive Rohstoffproduktion im Dienst landferner Investoren“
Ökonomisch fiele also das Verschwinden eines Tieres gar nicht ins Gewicht, das ein seit Jahrtausenden „heitere Friedfertigkeit“ ausstrahlender Kulturbegleiter des Menschen ist und das Bode als „lebendiges Element unserer Heimat“ nicht missen möchte. Um so schwerer wöge sein Verlust nach ökologischen Maßstäben. Denn diese Schlüsselart ist ein Gradmesser für den nachhaltigen Umgang mit der erst im 19. Jahrhundert gestalteten, vielfältigen und artenreichen Kulturlandschaft. Der Hase stehe historisch wie in Zukunft für eine biologisch gesunde Agrarlandschaft und gleichzeitig für die soziale Existenzgarantie bäuerlicher Landwirtschaft. Die im Begriff sei zu verarmen, ohne den Hasen und die zahllosen anderen Tier- und Pflanzenopfer von Herbiziden. Oder ganz zu verschwinden, „um einer kapitalintensiven Rohstoffproduktion im Dienst landferner Investoren“ im wahrsten Sinne des Wortes das Feld zu räumen.
Mithin bleibe der Rückzug des Hasen das „sichtbare Menetekel fehlender Nachhaltigkeit in unserer Landschaft“. Seine Verdrängung lasse sich aber auch als Weckruf für eine „ökologische Landbauwende“ verstehen. Was für Bode, Waldsprecher des Naturschutzbundes, sogar heißt, sich „zwangsläufig“ vom Weltmarkt abzuwenden und sich, bei drastischer Reduktion sämtlicher Agrarpestizide, auf eine naturräumliche Nahrungsmittelproduktion bäuerlicher Familienbetriebe mit Direktvermarktung zu konzentrieren. Das von vier Millionen kleinbäuerlichen Betrieben im deutschen Kaiserreich umgebene „Hasenparadies“ entstünde mit einer solchen „Landbauwende“ wieder wie von selbst.
Am 21. Juli ab 20 Uhr stellt Herausgeberin Judith Schalansky die Reihe „Naturkunden“ im Gerhart-Hauptmann-Haus auf der Insel Hiddensee vor:
Wilhelm Bode: Hasen. Ein Portrait. Herausgegeben von Judith Schalansky. Mit Illustrationen von Falk Nordmann. Matthes & Seitz, Berlin 2023, gebunden, 160 Seiten, 22 Euro