Die Großen Erzählungen, welche die Welt von einem archimedischen Punkt aus erklären und ein umfassendes Unterdrückungssystem, den Totalitarismus, in roter und brauner Version begründet hatten, schienen 1989 ein für allemal erledigt zu sein und mit ihnen besagtes System. Der Lorbeerkranz des Sieges der Geschichte gebührte der liberalen Demokratie. Am Horizont leuchtete die Vision der künftigen, weltweiten Assoziation freiheitlich gesinnter, kritischer, nüchterner, solidarischer Menschen auf, die für die Demokratie glühten und ihre Bürgerrechte sorgsam hüteten.
Letzte Illusionen über diesen geläuterten Menschentypus zerstoben in der Corona-Zeit, als ein technokratisches, von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit emanzipiertes System das öffentliche und weitgehend auch das private Leben unter seine Kontrolle und Steuerung nahm. Verblüfft stellte man fest, daß eine Mehrheit das widerspruchslos hinnahm und in Rollenmuster verfiel, die den überwunden geglaubten Totalitarismus kennzeichneten: Die Verhaltensweisen reichten von der Gläubigkeit gegenüber angemaßten Autoritäten bis hin zur Denunziation und Stigmatisierung von Abweichlern.
Für Mattias Desmet, Professor für Klinische Psychologie an der Abteilung für Psychoanalyse und klinische Beratung der Universität Gent, sind dies bedrückende, doch wenig erstaunliche Erscheinungen der Massengesellschaft. Die Masse besteht aus atomisierten Individuen, die durch den Zerfall sozialer Strukturen in der Moderne freigesetzt wurden. Die segmentierten Abläufe in der industriellen Arbeitswelt, die dem Produzenten kein Nahverhältnis zum hergestellten Produkt mehr gestatten, tun ein Übriges. Die Digitalisierung verschärft die Situation. Die sogenannten sozialen Netzwerke wirken anonymisierend und enthumanisierend. Das Homeoffice forciert die soziale Isolation.
Kollektive Halluzinationen mit einem erlösenden Wir-Gefühl
Führung und Kontrolle schaffen neue Orientierung, Zusammenhalt, gemeinsame Aufgaben. Die eschatologischen Ideologien, die 1945 und 1989 Bankrott anmeldeten, mögen gescheitert sein, doch eine technokratische Diktatur könnte folgen, die sich in suggestiven Kleinerzählungen entfaltet. Sie argumentiert mechanistisch, materialistisch, mit der Evidenz der Naturwissenschaft und beansprucht, die Entwicklung der Gesellschaft vorhersehbar und lenkbar zu machen. Doch auch das naturwissenschaftliche oder medizinische Argument unterliegt der Interpretation.
In der Corona-Zeit wurden die Menschen mit scheinbar objektiven Zahlen überschüttet, die in Wahrheit oft wenig oder nichts bedeuteten. Es ging um Suggestionen, die sich als wirksam erwiesen. Hier bestätigte sich die alte Erfahrung, daß der Totalitarismus sich zwar gegen den Menschen richtet, aber ihm zugleich entgegenkommt und Erwartungen bedient. Desmet erinnert an Gustave Le Bons Prophezeiung von 1895, daß die Massen die Macht über die Gesellschaft übernehmen und eine neue Staatsform entstehen lassen würden.
Massenbildung neigt schnell zu „kollektiven Halluzinationen“, in denen ein erlösendes Wir-Gefühl entsteht. Dissidenten stören diese künstliche Harmonie, die Gemeinsamkeit, die aktuelle Sinngebung; sie werfen den Masse-Menschen wieder auf den Angstzustand zurück und ziehen deshalb Aggressionen auf sich. Desmet bezieht sich neben Le Bon viel auf Hannah Arendt. Elias Canettis „Masse und Macht“ wird erstaunlicherweise nicht erwähnt. Der Autor hält den Weg in die Diktatur nicht für unvermeidlich. Doch er ist möglich, und das ist beunruhigend genug.
Mattias Desmet: Die Psychologie des Totalitarismus. Europa-Verlag, München 2023, gebunden, 270 Seiten, 24 Euro