© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/23 / 14. Juli 2023

Prägungen von West und Ost
Weißrußland ist von einer Kulturgrenze zwischen Ost- und Mitteleuropa geprägt / Liegt hier erneut ein politischer Sprengsatz?
Reinhard Mummelthey

Weißrußland (Belarus) ist ein aus drei unterschiedlichen Regionen zusammengesetzter Staat, dessen heutige Grenzen auf Stalins Politik zwischen 1925 und 1945 gründen, obwohl diese historisch und kulturell unterschiedlich geprägten Gebiete in dieser Form zuvor nie eine Einheit bildeten. Das heutige Weißrußland ist aus der Konkursmasse der Sowjetunion entstanden. Seit der von 1994 bis heute durchgehend amtierende Präsident Alexander Lukaschenko diesen Staat regiert, ist Teil seiner autoritären Herrschaft auch darauf gerichtet, dieses Kunstgebilde vom Zerfall zu bewahren. Seit dem Ukraine-Krieg, der auch in der Problematik zweier unterschiedlicher historisch-kultureller Räume wurzelt (JF 49/22), schwebt diese Gefahr wie ein Damoklesschwert über dem nördlichen Nachbarn. 

Dessen Teilung geht auf die Ethnogenese seit dem Mittelalter zurück. Die slawischen Stämme in den russischen Teilfürstentümern Polozk und Turow, die meist im Einfluß der Machtzentren Nowgorod im Norden und Kiew im Süden standen, prägten das heute östliche Weißrußland. Durch die Annahme des orthodoxen Christentums waren diese Gebiete kulturell einheitlich geprägt, bis die Goldene Horde nach 1237 große Gebiete der Rus unterwerfen konnte. 

Ein Land im Spannungsfeld von Katholizismus und Orthodoxie

Seit Ende des 13. Jahrhundert expandierte das noch nicht christianisierte Großherzogtum Litauen bis weit nach Osten. Spätestens mit der Hinwendung zum Katholizismus durch die Personalunion mit dem Königreich Polen 1386 erfuhr der bis Smolensk reichende Herrschaftraum unterschiedliche Prägungen; im Nordwesten setzte sich der katholische Glauben durch, der Osten blieb orthodox. Seit der litauisch-polnischen Lubliner Union 1569 wurden zudem weite Regionen bis über Wilna hinaus polonisiert. Die Gründung der griechisch-katholischen Kirche 1595 vertiefte die Spaltung in den katholischen Westen und den orthodoxen Osten zusätzlich. Da der katholische Klerus polnisch und dem Erzbistum Gnesen zugeordnet war, setzte automatisch die Polonisierung im katholischen Teil ein, analog blieb im orthodoxen Teil die Ausrichtung auf das „dritte Rom“ bestehen. Da einige katholische und orthodoxe Gebiete sich aber überschnitten, entstand im Gebiet zwischen dem polnischen Białystok und Minsk im Osten ein polnisch-weißrussischer Mischdialekt. 

Im Westen wurde zudem der litauische und weißrussische Adel polonisiert, damit sprach die Oberschicht in diesen Gebieten bis zum Zweiten Weltkrieg polnisch. Das Stadtbürgertum wiederum war von den in der frühen Neuzeit in „Ansiedlungsrayons“ lebenden Juden und Handel treibenden Deutschen und Polen geprägt. Weißrussen lebten fast ausschließlich als Bauern auf dem Land und in Dörfern, was zuletzt eine Volkszähung von 1897 im Zarenreich offenbarte. Auch über die polnischen Teilungen 1772 bis 1795 änderte sich an diesem Status wenig. Bezeichnend ist dabei, daß an den polnischen Aufständen gegen die russische Herrschaft von 1831, 1863 und 1905 die westlichen Regienen Weißrußlands beteiligt waren, während im Osten nichts passierte. Auch nach deren Niederschlagung wechselten nach 1840 in den polnisch geprägten Regionen im Westen etwa 50.000 Personen und ab 1905 etwa 100.000 Personen vom orthodoxen zum römisch-katholisch Glauben. Dennoch entwickelte sich auch in Weißrußland Ende des 19. Jahrhundert eine zaghafte „nationale Wiedergeburt“ unter der Regie der Schriftsteller Jakub Kolas oder Janka Kupala. 

Die vom deutschen Protektorat im Ersten Weltkrieg am 25. März 1918 ausgerufene Weißrussische Volksrepublik hatte nur eine kurze Überlebensdauer. Das Staatsgebiet umfaßte im Westen das vom deutschen Generalstab beherrschte Gebiet „Oberost“, also Litauen und den polnischen Bezirk Bialystok und ein Gebiet im Osten, das sich weit über das im Vertrag von Brest-Litowsk 1918 vereinbarte Besatzugsgebiet der Mittelmächte bis östlich von Smolensk erstreckte. Beherrschen konnte die kurzzeitige Regierung unter Jan Sierada das Gebiet aber nie, da nach der Unabhängigkeit Litauens und während des Polnisch-Sowjetischen Krieges und des Polnisch-Litauischen Krieges 1919 und 1920 gleich drei Länder mit ihren Armeen in das von der kleinen weißrussischen Elite nie kontrollierte Machtvakuum eindrangen.

Eine wichtige Rolle spielte dabei der polnische Staatsgründer Marschall Józef Piłsudski, der aus dem litauisch-weißrussischen Grenzgebiet bei Wilna stammte. Er führte 1921 eine Volksabstimmung im von der polnischen Armee beherrschten Westen über die Zugehörigkeit zu Polen durch, in der tatsächlich die Mehrheit der Weißrussen für Polen stimmte. Das war wichtig, denn gleichzeitig fanden in Riga Friedensverhandlungen zwischen Polen und der UdSSR statt, wo Piłsudski weite Gebiete Weißrußlands und Litauens beanspruchen konnte und die UdSSR, deren Rote Armee den Ostteil Weißrußlands inklusive Polotzk und Minks kontrollierte, die entstandene Ostgrenze akzeptieren mußte. 

Aus diesem von den Bolschewisten kontrollierten Gebiet flohen bis 1925 etwa 700.000 Menschen nach Westen, von denen etwa zwei Drittel weißrussisch und ein Drittel polnisch waren. Die Sowjetunion riegelte daher ab 1925 die Grenze hermetisch ab, um weitere Fluchtwellen zu verhindern. Der Anteil der Flüchtlinge im Westen von nun zum Staatsgebiet Polens gehörenden Belarus betrug dann etwa 25 Prozent der Bevölkerung. 

Auch der Zweite Weltkrieg vertiefte die Spaltung des Landes. Während im Osten der Partisanenkampf gegen die deutschen Besatzer von Bolschewisten angeführt wurde, führte im Westen die polnische Armia Krajowa den Abwehrkampf. Die kriegerischen Handlungen endeten auch nach 1945 im Westen nicht und dauerten in einigen abgelegenen Gebieten bis 1950 an. Der polnische Exil-Ministerpräsident Tomasz Arciszewski in London war daher auch nicht bereit, den Ansprüchen Stalins auf seine Beute aus dem Hitler-Stalin-Pakt bis zur Curzon-Linie zuzustimmen, da für ihn dieser Landesteil zu Polen gehörte. Dennoch kam es, wie von Stalin in der Konferenz von Jalta gefordert, nach 1945 zur Zwangsaussiedlung von etwa 500.000 Polen aus diesem Gebiet. Durch die Fluchtwelle sank der Anteil der Polen an der Bevölkerung im Westen von 1939 bis 1959 von 31,5 Prozent auf 17,3 Prozent. 

Lukaschenko unterdrückt im Westen polnische Einflußnahmen 

Offizielle Statistiken der heutigen weißrussischen Regierung sehen den Anteil der Polen 2019 sogar nur noch bei 3,1 Prozent. Allerdings gibt die Religionsstatistik eher die wahren Verhältnisse wieder: Nach einer Umfrage betrug der Anteil der Katholiken an der Gesamtbevölkerung 2020 in Belarus 6,7 Prozent, was etwa dem Anteil der Polen von 1959 entspricht. Da aber die offizielle Statistik als Maßstab gilt, haben Polen und Ukrainer (ihr offizieller Anteil schwankt zwischen 1,7 Prozent und drei Prozent in Belarus) keine Minderheitenrechte, denn nach Uno-Statut kann nur eine Minderheit ab fünf Prozent diese Rechte für sich beanspruchen. 

Nach dem Zusammenbruch der UdSSR 1991 gründeten Polen und Ukrainer wieder eigene Organisationen, die bis 1994, dem Jahr der Machtübernahme von Lukaschenko, existierten. Dann verbot Lukaschenko schlagartig alle solchen Organisationen, auch polnische Schulen wurden geschlossen. Bei der Präsidentenwahl 2006 trat mit Alexander Milinkiewicz aus Grodno erstmals ein polnischstämmiger Kandidat an. Er verlor die Wahl, erhielt aber im Westen eine Mehrheit. Verschiedene Proteste der polnischen Regierung, die Restriktionen gegenüber der polnischen Minderheit zu lockern, führten seit 1994 immer wieder zu Verstimmungen bis hin zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Minsk und Warschau. 

Doch auch im Osten hat sich etwas Grundlegendes im Sprachgebrauch geändert. Über die vergangenen Jahrzehnte nahm zum Beispiel im Raum Witebsk im Osten von Belarus der Gebrauch der weißrussischen Sprache zugunsten des Russischen kontinuierlich ab. Auch der Schriftverkehr findet dort ausschließlich in Russisch statt. Das ist im Westen völlig anders, zumal die polnische Regierung entschlossen dafür eintritt, daß das Weißrussische, insbesondere der Mischdialekt, auch weiterhin offiziell verwendet werden darf. Damit wird die Spaltung des Landes weiter befestigt und sorgt dafür, daß die alte polnische Ostgrenze von 1939 sich wieder als Kulturgrenze zwischen Mitteleuropa und Rußland formiert und damit die Instabilität des Landes befördert. Die Politisierung durch den Ukraine-Krieg hat diese Entwicklung eher noch beschleunigt.