© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/23 / 14. Juli 2023

Kalte Kampfansagen
Das französische Theorieorgan „Nouvelle École“ widmet sein aktuelles Themenheft dem deutschen Denker Arnold Gehlen
Karlheinz Weißmann

Die Zeitschrift Nouvelle École erscheint nur mit einer Ausgabe pro Jahr. Jede bietet neben einer Bibliographie wichtiger Neuerscheinungen und Beiträge zu verschiedenen wissenschaftlichen Feldern, von der Genetik über die Vor- und Frühgeschichte bis zur Literatur und Philosophie. Daneben widmet man sich einem Schwerpunktthema, oft einem bedeutenden Denker. So behandelten die letzten Nummern Georges Sorel, Werner Sombart, J. R. R. Tolkien, Charles Péguy und Georges Bernanos, während die aktuelle sich mit dem deutschen Philosophen und Soziologen Arnold Gehlen (1904–1976) befaßt. 

Gehlen wird dem französischen Leser anhand der Übersetzung zweier Originaltexte – über das Verstehen der Magie und das Ende der Persönlichkeit –, aber auch mit einer Reihe von Aufsätzen vorgestellt, die zentrale Aspekte seiner Lehre diskutieren. In den Beiträgen geht es um die Anthropologie Gehlens wie seine Institutionenlehre, um die Bedeutung, die er der Erziehung einräumte oder die Stellung seiner Theorie im Verhältnis zu den philosophischen Strömungen des 20. Jahrhunderts. 

In seinem Editorial hat Alain de Benoist als Herausgeber von Nouvelle École darauf hingewiesen, daß es das Ziel dieser Veröffentlichung sei, einen „in Frankreich weitgehend unbekannten (…) konservativen Theoretiker“ dem Publikum vorzustellen. Man wird allerdings sagen müssen, daß gegen diese Unbekanntheit in der jüngeren Vergangenheit schon einiges getan wurde. So hat Gallimard vor drei Jahren in der sehr renommierten Reihe „Bibliothèque de Philosophie“ eine vollständige Fassung von Gehlens Hauptwerk „Der Mensch – Seine Natur und seine Stellung in der Welt“ herausgebracht.

Wie bei den früher veröffentlichten Sammelbänden mit Aufsätzen Gehlens hat man es hier allerdings mit einer wissenschaftlichen Arbeit ohne direkte politische Aussage zu tun. Das ist deutlich anders bei der jüngst in Paris erschienenen Übersetzung von „Moral und Hypermoral“. Gehlen beharrte zwar immer darauf, daß dieses – sein letztes – Buch nach „Der Mensch“ (Der Mensch I) und „Urmensch und Spätkultur“ (Der Mensch II) als Abschluß (Der Mensch III) seiner Anthropologie zu betrachten sei, doch ist der ganz andere Charakter des Bandes im Hinblick auf Organisation des Stoffes und Duktus unverkennbar. Das erklärt sich aus der Tatsache, daß Gehlen mit „Moral und Hypermoral“ direkt auf die Folgen der linken Kulturrevolution in den sechziger Jahren reagierte, und auch wenn man seine Ausführungen zur „Pluralistischen Ethik“ zweifellos als Beitrag zur wissenschaftlichen Debatte lesen kann, bleibt doch der ausgesprochen polemische Ton, in dem der ganze Text gehalten ist.

Wie sehr man „Moral und Hypermoral“ bei Erscheinen als Kampfschrift verstanden hat, läßt auch der Text aus der Feder Armin Mohlers erkennen, der „Morale et Hypermorale“ vorangestellt wurde. Es handelt sich um einen knappen Aufsatz, der ursprünglich in der Zeitschrift Criticón abgedruckt war, deren Entstehung auch als Versuch betrachtet werden kann, Konsequenzen aus der Analyse von „Moral und Hypermoral“ zu ziehen. Mohlers Begeisterung für dieses „außergewöhnliche Buch“ resultierte jedenfalls daraus, daß es um eine Kampfansage an die Linke ging, die nicht – wie unter Konservativen sonst üblich – auf Tradition und das Althergebrachte Bezug nahm, sondern „kalt“ und rational die anthropologischen Gegebenheiten wie die resultierenden Erfordernisse benannte. 

Entscheidend für Gehlen war die Anerkennung der Doppelnatur unserer Spezies als organisch mittelloses „Mängelwesen“ einerseits, als zur zielgerichteten Handlung fähiger „Prometheus“ andererseits. Dem „Mängelwesen“ fehlen die Instinkte, die es soziallebenden Tieren ermöglichen, Verbände vom Wolfsrudel bis zum Termitenstaat zu bilden, ein Umstand, dem der „Prometheus“ abhilft, indem er Institutionen schafft. Solche Institutionen entfremden den einzelnen fraglos, aber sie ermöglichen ihm auch die notwendige Stabilität, um überhaupt eine Persönlichkeit im anspruchsvollen Sinn entfalten zu können. 

Diesen Zusammenhang nicht anerkennen zu wollen hielt Gehlen für den entscheidenden Fehler der „leftists“ und für die tiefere Ursache des Zerstörungsprozesses, den sie vorantrieben, unbekümmert um die Folgen. Daß sich der Niedergang zu Zeiten Gehlens – er starb 1976 – noch in Grenzen hielt, war ihm keine Beruhigung. Für ihn waren die Signale zum Abmarsch in die Dekadenz unüberhörbar. Was auch die Aktualität seines Werkes erklärt. Benoist empfiehlt in der erwähnten Ausgabe von Nouvelle École denn auch die Lektüre Gehlens „zur Stunde, da alle Institutionen in der Krise sind“.

Arnold Gehlen: L’ Homme. Sa nature et sa position dans le monde, übersetzt von Christian Sommer, Verlag Gallimard, Paris 2020, kartoniert, 595 Seiten, 35 Euro

Arnold Gehlen: Morale et Hypermorale, übersetzt von François Poncet. Krisis Verlag, Paris 2023, broschiert, 275 Seiten, 26,50 Euro

Kontakt: Nouvelle École Nummer 72, Paris 2023, broschiert, 201 Seiten, 29 Euro www.revue-elements.com