© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/23 / 14. Juli 2023

Bildungsforscher warnen vor einer Katastrophe für die Demokratie
Schaffen wir das?
Traute Petersen

Am selben Tag, als der höchste Repräsentant Deutschlands dafür plädierte, das Wahlalter auf 16 Jahre zu senken, wurde das Ergebnis der jüngsten internationalen Vergleichsstudie IGLU bekannt (IGLU; Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung): Am Ende der Grundschule können die meisten deutschen Schüler nicht richtig lesen, sinnentnehmend nicht einmal ein Zehntel, ein Viertel gar nicht. Können also in Deutschland demnächst auch halbwüchsige Analphabeten den Bundestag wählen? 

Da schrillten sogar bei den Kultusministern die Alarmglocken: Ohne einen „Mindeststandard an Lese- und Schreibkompetenz“ fehle „das Fundament für Bildungserfolg und Teilhabe an einer demokratischen Gesellschaft“. Konnten nicht aber schon im klassischen Athen, der Wiege der Demokratie, keineswegs alle Bürger lesen und schreiben? Über politische Vorhaben informierte man sich in täglichen Gesprächen auf Märkten und öffentlichen Plätzen, und in Wahlen und Abstimmungen entschied meist das rhetorische Geschick eines Redners. Lese- und Schreibfähigkeit waren eigentlich nur benötigt in jenen Scherbengerichten, mit denen herausragende Einzelne aus der Stadt verbannt werden konnten. Aber auch hier konnten, so ist es überliefert, Analphabeten mitmachen. Da reichte ein schlichter Bauer seine Scherbe dem erstbesten Nebenmann mit der Bitte, für ihn, den Schreibunkundigen, den Namen Aristides auf die Scherbe zu schreiben. Von diesem nach seiner Begründung befragt, erklärte der Bauer, er kenne den Mann gar nicht, könne aber nicht mehr mit anhören, daß der überall „der Gerechte“ genannt werde. Woraufhin der Nebenmann – just jener Aristides –, ohne ein Wort zu verlieren, die Scherbe wunschgemäß beschriftete. Das Abstimmungsergebnis mag Zweifel am Sinn des Verfahrens wecken, kaum aber am demokratischen Engagement des Analphabeten.

Müssen wir uns also den jüngsten Unkenrufen anschließen, die wieder einmal eine deutsche Bildungskatastrophe verkünden, diesmal sogar die Gefährdung der Demokratie? Verschiedene Gründe sprechen für einen optimistischeren Blick in die Zukunft: Zunächst einmal sind Parteipolitiker, Bildungspolitiker, Bildungsplaner, Bildungsforscher und Bildungsexperten ebenso verläßlich wie lernfähig. Ihr jahrelanges Mantra „soziale Herkunft“ als Bedingung für Bildungschancen gern ergänzt durch den Hinweis: „in keinem Land so sehr wie in Deutschland“ hat zwar seit dem Pisa-Schock von 2001 nichts gebracht. Aber den Hinweis auf Deutschlands Spitzenposition hat IGLU jedenfalls bestätigt, und die immer tiefer sinkenden Schülerleistungen kompensierte man doch allemal durch immer höhere Noten. Auch dort, wo man weiterhin an „Herkunft“ als entscheidendem Bildungsfaktor festhält, beweist man aktuelle Wokeness: die fällige Ergänzung des Adjektivs „sozial“ durch „ethnisch-kulturell“ könnte heute rassismusverdächtig wirken.

Ein weiterer Grund für Optimismus ergibt sich aus dem Blick auf das Vorbild Athens. Bietet sich nicht auch heute da, wo es mit Lesen und Schreiben hapert, das Hören an? Dient in der politischen Öffentlichkeit nicht schon seit längerem die „leichte Sprache“ als überaus erfolgreiches Kommunikationsmittel? Mit ihr lassen sich neben allen möglichen oder tatsächlichen Opfern sozialer, ethnischer, kultureller, diverser oder sonstiger Benachteiligungen erst recht halbwüchsige Analphabeten erreichen. „Leicht“ bedeutet in diesem Zusammenhang den großzügigen Umgang mit tradierten Sprachregeln vor allem auf drei Feldern: Reduktion (grammatischer und semantischer Strukturen), Vieldeutigkeit (um heterogene Vorkenntnisse und Interessen anzusprechen), Vereinigung von Unvereinbarem (um Widersprüche zu überspielen und Zustimmung zu gewinnen). Größtmögliche Kürze und direkter Adressatenbezug – simple Dreiwortsätze und ein inkludierendes „Wir“ – versprechen hier beste Erfolge. Als Musterbeispiele leichter Sprache empfehlen sich die drei Slogans „Wir schaffen das“, „Das Wir zählt“ und „Wir sind mehr“. Das kleine Wörtchen „Wir“ läßt sich nämlich nicht nur als werbende Einladung verstehen, sondern auch als indirekte Abgrenzung von jedem widerständigen „Ihr“.

„Das Wir zählt“, Wahlspruch einer einst großen Volkspartei, setzt geradezu vorbildlich grammatische Regeln über Singular und Plural, Substantiv und Verb außer Kraft. „Wir“ spricht im Singular. Aber was oder wer „zählt“ hier? Eine zahlenmäßig feststellbare numerische Größe? Eine Sache von entscheidendem Gewicht? Daß beides möglich ist, bedeutet einen doppelten Anreiz für Wähler und gesellschaftspolitische Teilhabe.

Mit Vieldeutigkeit und Werbewirksamkeit aber punktet der legendäre Merkelsatz „Wir schaffen das“. Das „das“, für die Parteikonkurrenz nur ein bestimmter Artikel, erscheint hier als unbestimmtes Akkusativobjekt. Zwar spricht das „Wir“ hier korrekt im Plural, doch in welchem? Falls im Plural Majestatis, ließe das freilich wiederum auf den Singular schließen. Und was alles kann „schaffen“ bedeuten? In Luthers Sprache wurde die Welt durch höchsten Willensakt „geschaffen“. „Schaffen“ läßt sich aber auch ein Weltrekord – vorausgesetzt, die Anstrengung hat den Sportler nicht vorzeitig „geschafft“. Im Alemannischen bezeichnet „schaffen“ einen dauerhaften Zustand des Tätigseins. Wie also sollen wir diesen vieldeutigen Satz verstehen? Als Verheißung eines selbstbewußten Trainers? Als Beschwichtigung eines besorgten Arztes? Als Beschwörung einer spezifisch deutschen Arbeitshaltung? Warum nicht als Synthese aller Deutungsvarianten? Auch wenn ein jeder hier Verschiedenes heraushören mag, bleibt die Zielrichtung klar: In drei Worten wird ein umstrittenes Verfahren mit ungewissem Ausgang zu einer gemeinsamen Erfolgsgeschichte deklariert, die dem „Ihr“ von Zweiflern, Kritikern und Gegnern den Wind aus den Segeln nimmt.

Als elegantestes Beispiel für leichte Sprache erscheint der Satz „Wir sind mehr“, kürzlich in Chemnitz kreiert als siegesgewisse Parole im aufgeheizten Streit um tatsächliche oder angebliche fremdenfeindliche Hetze. Ohne sich und andere mit Sachargumenten zu belasten, ermöglichte hier eine der streitenden Parteien in leichter Sprache gesellschaftliche Teilhabe für alle. Denn wer wollte sich nicht einem „Wir“ anschließen, das seine moralische Überlegenheit durch schlichte Berufung auf das Mehrheitsprinzip beweist? Drei Worte genügen für den beruhigenden Appell an die eigene Klientel der „Anständigen“ und eine versteckte Drohung in Richtung der anderen, der „Unanständigen“. 

Eine Rhetorik, die Widerständiges so bravourös vereinnahmt, ist nicht jedermanns Sache. Angesichts größerer gesellschaftspolitischer Kontroversen bewährt sich leichte Sprache vor allem in der Suggestion der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, des scheinbar logikfreien Nebeneinanders gegensätzlicher Bilder oder der eigenwilligen Kombination unvereinbarer Begriffsebenen. So wird beispielsweise die Existenz einer Sache einerseits geleugnet, andererseits aber überall gewittert, angeprangert und kriminalisiert. „Rasse“, so heißt es, gibt es nicht, wohl aber „Rassismus“. „Rasse“ darf nicht gesagt werden, weshalb „Antirassismus“ angesagt ist.

Für ein solches faustisches Hexeneinmaleins – „aus eins mach zehn und eins ist keins“ eignen sich natürlich fremdsprachliche, nicht immer geläufige Begriffe eher als muttersprachliche. Identität etwa ist der Begriff für das Eigene, das unverwechselbare Ich. Wer heute seine geschlechtliche Identität nicht einfach binär als „männlich“ oder „weiblich“ definieren möchte, wählt den Begriff „divers“ (verschieden). Eigenes versteht sich dann als Verschiedenes, Identisches als Diverses. Diverse finden ihre Identität in der Diversität. 

Auch im Streit um die Migrationspolitik nutzt leichte Sprache gern fremdsprachliche Fachbegriffe, so etwa bei der Formel: „Kein Mensch ist illegal“. Mühelos gelingt hier in nur vier Worten die Inklusion so verschiedener Begriffe, Ansprüche und Rechtskategorien wie: Mensch, Bürger, Migrant, Asylant, Völkerrecht, Menschenrecht, Bürgerrecht, Grenzöffnung, Grenzkontrolle. Daß die Fachbegriffe „illegal“ oder „legal“ die Rechtmäßigkeit beziehungsweise Unrechtmäßigkeit von Handlungen, nicht von Personen bewerten, ist hierbei ohne Belang. Was sollen juristische Argumente angesichts der humanitären Argumentation: Migranten sind Menschen und haben als solche das Recht, zu handeln.

Für derartige Vexierspiele bietet auch die Welt der Farben ein beliebtes Arsenal. Da leuchtet die „One World“ in allen denkbaren Farben wie die Regenbogenfahne über einem globalen Dorf. In dieser bunten Welt verflechten sich verschiedene Kulturen und Sprachen in ständigem fruchtbarem Austausch von Geben und Nehmen. Doch gleichzeitig wird diese vielfarbene Welt gespalten durch die zwei Farben Schwarz und Weiß. Wie ein vorgezogenes Jüngstes Gericht teilen Schwarz und Weiß die bunte Welt unwiderruflich in schwarze Opfer und weiße Täter, in Schuldige und Schuldlose. Was eben noch „kultureller Austausch“ hieß, gilt jetzt als strafwürdiges Vergehen, als „kulturelle Aneignung“, wozu – zumindest für einen Kevin Kühnert – nun sogar der Fremdsprachenerwerb zählt. Aus einem „One World“ – Miteinander wird ein globalisiertes Gegeneinander. 

Als deutschlandspezifische Variante erscheint einerseits die Spaltung in ein östliches „Dunkeldeutschland“ und dessen hellen, westlichen Gegenpol, andererseits der gleichzeitige Appell, jedem Mitbürger und potentiellen Wähler mit „Respekt in Augenhöhe“ zu begegnen. Demokratische Teilhabe beweist sich einerseits im Gleichschritt der solidarisch Untergehakten, die „niemanden zurücklassen“, andererseits durch die Errichtung einer „Brandmauer“, um keinen Andersdenkenden einzulassen oder zuzulassen. Vor diesem Hintergrund lassen sich die 200 Millionen des Bundesfamilienministeriums in leichter Sprache bestens kommunizieren: als Fördermaßnahme für „Demokratie leben“ und „ein gutes Miteinander“.

Niemand hat besser leichte Sprache als Dreh- und Angelpunkt für Demokratie definiert als der deutsche Vizekanzler und jüngste Ludwig-Börne-Sprachpreisträger: Die „Idee der Demokratie“ bestehe darin, durch „offene und vielfältige Sprache“ mit Begriffen und Sätzen Deutungsmuster zu schaffen und damit die Wirklichkeit zu gestalten. In Abwandlung der alten linken Parole „die herrschende Sprache der Herrschenden“ darf man das wohl verstehen als „die herrschende leichte Sprache als Sprache der herrschenden Leichtgewichte“.

Natürlich sind solche Sprachbetrachtungen nicht für Alphabetisierungsbedürftige gedacht, in ihrer praktischen Konsequenz schließlich aber ein weiterer Grund für die optimistische Beantwortung der Leitfrage. Unter solchen Bedingungen können natürlich auch Analphabeten Demokratie. Abhängig freilich von dem, was man unter „Können“ versteht. Aber selbst 16jährige Analphabeten können ihr Kreuzchen an der richtigen Stelle setzen und notfalls jemanden zur Seite wissen, der das für sie erledigt.






Dr. Traute Petersen, Jahrgang 1941, war von 1989 bis 1993 Vorsitzende des Verbands der Geschichtslehrer Deutschlands. Sie arbeitete im schleswig-holsteinischen Hochschul- und Schuldienst und veröffentlichte historische, bildungspolitische und kunstgeschichtliche Werke.