© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/23 / 14. Juli 2023

Es fehlen die göttlichen Inspirationen
Kunstgeschichte: Kritische Anmerkungen zu Michael Triegels Vervollständigung des Cranach-Altars im Naumburger Dom
Reinhard Liess

Streitschriften, Lebenselixiere wissenschaftlicher Dispute, sind leider unüblich geworden. Um so bemerkenswerter die jüngst im Michael Imhof Verlag erschienene Streitschrift „Naumburger Bilderstreich“, die das von Michael Triegel für den Westchor des Naumburger Doms geschaffene Madonnen-Retabel zum Gegenstand hat – genauer: eine Abrechnung mit den für dessen Verbannung verantwortlichen Kritikern.

In „fünf Akten“ schildert der Autor die Stiftungsgeschichte der liturgischen Ausstattung sowie der Restaurierung des Westchors und seiner hochgotischen Stifterfiguren seit 1513, die Beauftragung des Wittenberger Hofmalers Lucas Cranach mit einem Madonnenretabel und dessen Aufstellung im Jahre 1520. Es folgt, schon im Blick auf den sich anbahnenden „Skandal“, eine Beschreibung des Triegel-Retabels, das die „Wunde“ des im reformatorischen Bildersturm zerstörten Madonnenbilds Cranachs heilen sollte, im Juni 2022 im Westchor feierlich eingeweiht, bald darauf aber wieder entfernt werden mußte (1. und 2. Akt).

Der Autor beklagt die Ernüchterung, die das „Hochgefühl“, dieses unter finanziellen Opfern erworbene „kostbare Kunstwerk“ zu besitzen, erfuhr, als ein Warnschreiben der Unesco schwere Bedenken gegen es erhob. Den Anstoß dazu gaben Einwände des Kunsthistorikers Achim Hubel, auf den sich Habenicht weidlich einschießt. Dem kritischen Votum schlossen sich tendenziell die Landesdenkmalpflege und Gutachten des World Heritage Centres der Unesco sowie des Internationalen Rats für Denkmalpflege ICOMOS an.

Kontrovers diskutiert werden die ganzheitlichen Blickachsen 

Daraufhin erfolgten Demontage und Abtransport des Triegel-Retabels zunächst nach Paderborn. Von diesem konservatorisch korrekt ausgeführten Abbau zieht der Autor historische Parallelen zu willkürlichen Zerstörungen des reformatorischen „Bildersturms“ (3. Akt), um ihn ein paar Seiten weiter (im 5. Akt) mit einem „Happening“ zu vergleichen und als Eulenspiegelei der Gutachter lächerlich zu machen. Die Wiedergabe der Gutachten im Wortlaut wird dem Leser vorenthalten, dagegen deren Verfassern angedroht, sie dürften sich „wie ihr Vorbild Till Eulenspiegel ... bei den Gefoppten und Geprellten in Naumburg nie wieder blicken lassen.“

Kontrovers diskutiert werden die originalen „sensiblen Blickachsen“, die den Westchor, die Stifterfiguren und den Lettner des 13. Jahrhunderts mit dem Langhaus und dem Ostchor zu einer räumlichen Einheit verbinden (4. Akt „Showdown“). Hubels Einwand, es könne im Westchor zu keinem Zeitpunkt ein ob seiner Größe den Blick verstellendes Cranach-Retabel bestanden haben, weiß Habenicht aufgrund der Quellenlage zu entkräften. Doch auch wenn er nachweist, daß der Priester die Messe am Westaltar nicht in Richtung Osten, sondern Westen zelebrierte, bleibt es Hubels Verdienst, auf die durch Triegels Retabel bewirkte Störung der zwischen Architektur, Skulpturen und Glasfenstern ganzheitlich inszenierten Blickbeziehungen aufmerksam gemacht zu haben. Dagegen argumentiert Habenicht, die Stifterfiguren seien im Mittelalter nachweislich hinter grünen bzw. zur Fastenzeit mit schwarzen Tüchern verhüllt gewesen. Nun, das sollte doch wohl kein Plädoyer für ihre permanente Wiederverhüllung sein!

Christus fehlt die geistige Verklärung des Auferstandenen 

Triegels Madonnentafel unterbrach den „Kranz“ der Stifterfiguren, verdeckte die beiden westlichen, Sizo und Wilhelm, und degradierte den Unterbau des Westchor-Polygons zu einer räumlichen Abseite. An der Rückseite der Tafel konkurrierte auch die riesige Christusfigur mit den Stifterstatuen. Der Maler mag mit der Reproduktion der Mittelschiffsgewölbe und der Lettnerarchitektur im Rücken Christi bezweckt haben, Bild- und Realarchitektur aufeinander abzustimmen. Tatsächlich entwertete er mit dem gemalten Abbild die gebaute Wirklichkeit zum optischen Hintergrund seiner dominierenden Christusfigur und erzeugte bei Schrägblicken verzerrte Perspektiven.

Mißglücken mußte des Autors Versuch, diese Diskrepanzen mit dem erst in der Renaissance aufkommenden, hier aber anachronistischen, weil dem Mittelalter unbekannten „Paragone“ (Wettstreit) zwischen Malerei und Architektur zu rechtfertigen. Indirekt hat er damit ja nur die in Naumburg zwischen beiden Gattungen zutage tretende und von Hubel zu Recht aufgewiesene Unverträglichkeit eingeräumt. Die über Qualität und Plazierung eines Kunstwerks zu führende Debatte dichtete er in eine Glaubensfrage, einen Religionsstreit um. Kirchliche Würdenträger werden zitiert, die die Entfernung des Retabels gar als religiösen „Frevel“ und Beschneidung des „Rechts auf freie Religionsausübung“ beklagten. „Der Rückzug der Kunst“ sei „im Falle des Naumburger Cranach-Triegel-Retabels zugleich ein Rückzug der Religion“. Unter dieser fadenscheinigen Fahne der „Religion“ agitiert am Ende die Politik, läßt sich doch der Autor dazu hinreißen, Parallelen zur skandalösen Kreuzentfernung 2022 aus dem Münsteraner Friedenssaal sowie zum Oldenburger Kreuzerlaß der Nationalsozialisten von 1936 zu ziehen. Den Gegnern Triegels sei „klar“ zu machen, „in welcher fatalen Kontinuität sie sich bewegen.“

In diese Einschüchterung integrierte Habenicht seinen alle fachwissenschaftlichen Gutachten in Bausch und Bogen verdammenden Bannspruch gegen die „wissenschaftliche Expertokratie“. Durch „die Kollision“ der „Imperien von Wissenschaft und Religion“ sei aus der Sachfrage eine Machtfrage gemacht worden. Die hypertrophe Behauptung, „Gott mußte befehlender Wissenschaft weichen“ erweckt geradezu Mitleid mit dem lieben Gott! Unsinnig Habenichts Vorstellung, der Kunst- und Religionsgeschichte und Theologie müsse das Reich der Wissenschaft verschlossen bleiben. Damit stellte sich der Autor als wissenschaftlicher Experte mitsamt seinen auf nicht weniger als auf 124 Quellenzitate gestützten Recherchen ja auch selber in Frage.

Habenichts Apotheosen des Triegel-Retabels heben es in den Rang der Werke van Eycks, Dürers, Cranachs und anderer großer Meister christlicher Kunst. Es ist ja verständlich, daß die Jetztzeitkunst mit ihrer radikalen Negation des an der Natur gebildeten Schönheitssinns einen Hunger des Auges nach gegenständlich wiedererkennbaren Bildern stimuliert, die ihre Sinngestalten, zumal religiöse, wieder der unmittelbaren Anschauung erschließen. Aber dieser Hunger ist, wie die Triegel-Affäre zeigt, so begierig geworden, daß er mancherlei unbesehen schluckt und sich auch vom Anblick des „Segnenden Christus“ Triegels schon gestillt wähnt.

Von der Rechten Christi spreizt sich der gestreckte Daumen weit ab, wie an einer „Eins-, Zwei-, Dreierlei“ aufzählenden Hand. Triegel hätte Segensgesten der Altniederländer, Dürers, Bellinis oder Tizians entnehmen können, daß der Daumen erhoben oder dem gestreckten Zeigefinger genähert, nie aber in dieser die Aussage entleerenden Weise weggestreckt wurde. Kopf und Gesicht Christi sehen aus wie sie heute an langhaarigen jungen Männern eben so aussehen.

Der verblüffend naturalistisch gemalte Körper läßt das Wesentliche vermissen: die geistige Verklärung des vom Tode auferstandenen Leibes. Im Unterschied zu Tizians „Auferstehung Christi“ in Urbino, den Triegel im Auge gehabt haben mag, mangelt es seinem Christus aller Impulse, die seine Erhebung aus dem Grabe und seinen Aufstieg gen Himmel hätten sinnfällig machen können. An der Standebene haftend und an die Knüpfpunkte der gemalten Architektur „gefesselt“, vermag er ebensowenig wie das männliche Modell im Atelier sich vom Boden zu lösen und ins Jenseits zu erheben, in eine Sphäre, die außerhalb der Vorstellung Triegels wie auch Habenichts blieb. 

Das Bild des Jesuskindes birgt keine Verheißung des Erlösers 

Die Madonna im Zentrum des Hauptbildes erscheint unter blauem Umhang in blendend weiße, weniger einer liturgischen Kleidung als einem Bettlaken ähnelnde Stoffmassen gehüllt. Deren altmeisterlichen Disegno ansinnende Drapierung bietet den optischen Genuß reiner Oberflächenmalerei, die den Vergleich weder mit der gedankentief figurierten Beredsamkeit der Gewänder van der Weydens und Dürers noch mit der würdevollen architektonischen Ordnung der Madonnenmäntel van Eycks noch den atmosphärischen Qualitäten der Faltenbildungen Leonardos aushält.

Lieblos, bar innerer Fühlung packt Maria das kränkliche Neugeborene mit dem Klammergriff gespreizter Finger, nicht um es an ihre mütterliche Brust zu ziehen, sondern von sich wegzudrücken, so als sollte es dem Betrachter abgeliefert oder dem Pädiater zur medizinischen Begutachtung vorgestellt werden. Das Bild des unheilig gequält anmutenden Kindes birgt keine Verheißung des künftigen Erlösers. Angesichts dieses Jesuskindes wirkt das grinsende Mädchen mit seinem der Jungfrau Maria geltenden „Magnificat“-Spruchband wie eine Verhöhnung.

Der Maria hat der Maler den Porträtkopf seiner Tochter aufgesetzt. Aber anstatt das Bild der schönen Tochter in ein Marienbild zu verwandeln, hat er aus der Maria ein Abbild seiner erwachsenen Tochter gemacht. Das ist ja nicht verboten, hat aber die Madonna ihrer Jungfräulichkeit, Würde und Heiligkeit entkleidet. Dem naturalistischen Credo seiner Malerei folgend, jedoch im Unterschied zu den der Natur huldigenden Malern klassischer Zeiten, wußte er dem Modell keine neue, allein in der Kunstwirklichkeit sich vervollkommnende und bewahrheitende Identität zu geben. Mangels dieser die Phänomene der Natur schöpferisch durchdringenden Verwandlungskraft gleicht Triegels „Madonna“ der Photographie einer kostümierten Darstellerin in einem Krippenspiel – ein als Madonna nur verkleidetes Modell, die Falsifikation einer Madonna. 

Diese Kritik erstreckt sich auch auf die nach Porträtfotos oder -studien gemalten Figuren im Hintergrund. Was mag der protestantische Theologe Bonhoeffer mit katholischem Marienkult zu tun haben? Auf die Einfügung der Porträts eines Rabbiners und einer bekopftuchten Dunkelhäutigen weiß der Betrachter sich seinen politisch korrekten Reim zu machen. Ohne miteinander zu kommunizieren, lassen alle ihre Blicke ziellos in verschiedene Richtungen schweifen, oder sie richten sie auf ihre sie als „Heilige“ identifizieren sollenden Attribute, nur eben nicht auf die „Madonna“. Deshalb führt der Versuch, diese profanen Musterbilder gesättigter Selbstbefindlichkeit mit Heiligengestalten einer „Sacra Conversazione“ venezianischer Prägung zu identifizieren, in die Irre. Daran ändern auch die als ikonographische Versatzstücke aus Altären Bellinis herbeizitierten Musikengel nichts.

Triegels Retabel entbehrt der Transzendenz

Das traditionell zur Verherrlichung der Madonna die Rückwand ihres königlichen Throns zierende Ehrentuch erfährt durch Triegel, ungeachtet seiner kostbaren Brokatmalerei, eine Verballhornung. Bei fehlender Thronarchitektur wird es von einigen der Porträtierten in ganzer Breite auseinandergezogen. Damit sollte es die Festlichkeit der Darstellung steigern, tatsächlich aber fungiert es trickreich als Camouflage der unteren Figurenabschnitte, genauer: ihrer zeitgenössischen und mithin auf einem Madonnenbild anachronistisch wirkenden Bekleidung vielleicht mit Jeanshosen und Turnschuhen. 

Angesichts dieser Bildwirklichkeit lösen sich Habenichts Elogen des Triegel-Retabels als „Gleichnis auf das Ewige, Schöne, Wahre“, als „Predigt in Bildern“, als „bildgewordener Glaube“ in nichts auf. Trotz oder wegen der Perfektion und verführerischen Reize seiner veristischen Oberflächenmalerei erweckt es keine Andacht, keine echten religiösen Empfindungen. Zu gegenwärtig beunruhigenden Problemen des Religionsverfalls und Glaubensschwunds weiß die ganze frömmelnde Betriebsversammlung Triegels nichts zu sagen. Ihr fehlt, was die von Habenicht unpassend herbeizitierte Sakralkunst des 15. und 16. Jahrhunderts heiligte: Transzendenz. Diesen wesentlichen Mangel trachtete der Maler durch fleißige Bestückung des Retabels mit christlichen Symbolen zu kompensieren. Aber auch an ihnen beschränkte er sich auf die Wiedergabe materieller und stofflicher Qualitäten. Er brilliert als Stillebenmaler, machte dabei aber auch das Lebendige, hier ein Madonnenbild, zur „nature morte“. 

Zu den Malern, die wie Dürer „innerlich voller Figur“, reich an „Bildnissen im Gemüt“ waren, gehört Triegel nicht. Die Religiosität, die seine Promotoren ihm und seiner Kunst ansinnen, ist nur Spiel. Seine Malerei entbehrt der „inneren Ideen“, der „öberen Eingießungen“, der göttlichen Inspirationen, von denen Dürer sprach. Diese Einsicht blieb dem Autor der Streitschrift, die nun ihrerseits eine streitbare Antwort erfährt, verschlossen. 






Prof. Dr. Reinhard Liess, Jahrgang 1937, ist Kunsthistoriker. Nach seiner Habilitation über „Wahrheit und Wirklichkeit in der Kunst des Peter Paul Rubens“ lehrte er an Universitäten in Braunschweig, Regensburg und Osnabrück. Zuletzt veröffentlichte er die Bücher „Streifzüge durch die klassische Kunstgeschichte mit einer Kritik an Picasso“ (JF 46/21) und „Albrecht Dürer. Die Sprache seiner Gewänder“ (2022).

Georg Habenicht (Hrsg.): Naumburger Bilderstreich. Zum Triegel-Cranach-Altar. Ein Kunststück in fünf Aufzügen. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2023, broschiert, 96 Seiten, Abbildungen, 14,95 Euro