© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/23 / 14. Juli 2023

Liebe in den Zeiten des Corona-Regimes
Musiktheater: Eine nachgeholte Premiere von Frank Martins „Le vin herbé“ an der Oper Frankfurt
Jens Knorr

Es sei „das erste bedeutende Werk, in dem ich meine eigene Sprache gesprochen habe“, hat der Schweizer Komponist Frank Martin (1890–1974) im Gespräch geäußert. „Le vin herbé“ – ein Oratorio profane, weltliches Oratorium, seiner Komposition hat Martin selbst keine Gattungsbezeichnung beigegeben – schrieb er ab 1938 im Auftrag des Komponisten und Dirigenten Robert Blum für den von Blum geleiteten Zürcher Madrigalchor. Martin griff nicht, wie ein Dreivierteljahrhundert vorher Richard Wagner, auf das Epos des Gottfried von Straßburg zurück, sondern auf „Le Roman de Tristan et Iseut“, den der französische Mittelalterforscher Joseph Bédier im Jahre 1900 veröffentlicht hatte.

Aus Bédiers Nacherzählung des mittelalterlichen Epos vertonte Martin das vierte, neunte und neunzehnte Kapitel, ergänzt durch Vorspiel und Nachspiel, deren Text er gleichfalls der Vorlage entnahm. Überbringer der Geschichte sind ein Kammerchor aus je sechs Frauen- und Männerstimmen, acht Instrumentalisten, je zwei Violinen, zwei Violen, zwei Celli, ein Kontrabaß und ein Klavier.

Mit dem berühmten „Tristan“-Akkord des Vorspiels, der sich nach den Regeln der Harmonielehre mehrdeutig oder gar nicht diatonisch auflösen läßt und dem zum Schluß der „Handlung in drei Aufzügen“ eine ziemlich banale Auflösung zuteil wird, mit diesem Akkord hatte Richard Wagner das Tor zur freien Tonalität weit aufgestoßen und die Klänge ihrem Triebleben überlassen. Dem begegnete eine neue Ordnung des musikalischen Materials: die Reihentechnik, das Komponieren mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen, deren Erfindung sich Arnold Schönberg allein zugeschrieben hat.

Wagner hat das Tor zur freien Tonalität weit aufgestoßen

Die Reihentechnik benutzte auch Frank Martin für die Musik von „Le vin herbé“, doch polsterte er sie wiederum diatonisch aus. Der Hörer könnte im günstigen Falle all das, was diatonisch, also nach Dur und Moll klingt, als fremd hören, im ungünstigen Falle all das, was auf Zwölftonreihen beruht, auf das vertraute Dur und Moll rückbeziehen, so daß seinem Ohr alles sowohl alt als auch neu, sowohl dissonant als auch harmonisch, sowohl barock als auch klassizistisch vorkommen müßte. Dieser Widerspruch macht eine der Qualitäten von Martins „style chromatique“ aus.

Die vollständige Komposition wurde 1942 in der Tonhalle Zürich konzertant uraufgeführt, szenisch erstmals 1948 in der Inszenierung von Oscar Fritz Schuh bei den Salzburger Festspielen. Vorbehalte des Komponisten gegen szenische Realisierungen seines Oratoriums, die er jedoch nicht untersagte, bestätigt die Inszenierung von Tilmann Köhler an der Oper Frankfurt. Nach coronabedingter Premierenabsage hat sie Orest Tichonov neu einstudiert und zur Premiere vor Publikum gebracht. Daß sie unübersehbar die Male der behördlichen Auflagen während des Ausnahmezustands trägt, ist der Regie nicht vorzuwerfen. Daß sie ihre szenische Phantasie nicht an den Querständen der Musik entzündete, sondern vielmehr in tiefer, tiefster, allertiefster Betroffenheit vor der Geschichte kapitulierte, schon.

Die Bühne von Karoly Risz nehmen in Breite und Höhe zwei Setzkästen ein, in stumpfem Winkel einander zugekehrt, vielleicht ein Buch, in deren Fächer die Sänger nach Stimmgruppen sortiert stehen, jeder von jedem separiert. So bewundernswert die exzellente Leistung der Damen und Herren des Chors der Oper Frankfurt in der Einstudierung ihres Chordirektors Tilman Michael auch ist, widerläuft bereits die Verdoppelung des Chors auf 24 Stimmen seiner Funktion als erzählende, kommentierende, die Handlung objektivierende Instanz.

Gestik und Mimik aus dem Setzkasten der Affektenlehre

Die Solisten treten aus dem Chor heraus, um nicht mehr in ihn zurückzufinden. Als handelnde Figuren illustrieren sie das unter dem Dirigat von Takeshi Moriuchi längst musikalisch äußerst differenziert Verhandelte. Gestik und Mimik fischen sie sich aus dem Setzkasten der Affektenlehre, den die Romantik tüchtig durcheinandergebracht hat. Der mexikanische Tenor Rodrigo Porras Garulo als Turnschuh-Tristan sowie die kolumbianische Sopranistin Juanita Lascarro als Isoit, die Blonde, singen und agieren ihre Partien aus, insonderheit die großen Monologe ihrer Figuren, als wären die von Wagner und nicht von Martin. Die Kostümvarianten, die Susanne Uhl für die Auftritte der Choristen in ihren Zellen gefunden hat, auch die Lichtregie von Jan Hartmann, vermögen im Zuschauer weitaus mehr szenische Phantasie freizusetzen, als szenische Metaphern von der Stange: rote Tücher für Liebe und Wunde, Sand für verschüttete Tränke und immer mal wieder Notenblätter für dies und das.

Gerade jedoch in der leeren Allgemeinheit der Inszenierung scheinen Kompositions- und Inszenierungszeit beklemmend kurzgeschlossen. Läßt sie sich nicht auch als Exkurs über vereinzelte Einzelne lesen, gefangen in ihren Privatappartements, deren Freiheit einzig darin besteht, Zimmer und Etage ab und an zu wechseln, und deren Ausbruch aus Konventionen einzig darin, sich die Beine vor Haus und Hof zu vertreten, den sie sich als Wald von Morois imaginieren? Sie haben das Corona-Regime weder durchschaut, noch haben sie dem widersprochen. Sie haben alles dichtgemacht. Ihr Zaubertrank kam von Pfizer Inc.

Die nächsten Vorstellungen von „Le vin herbé“ an der Oper Frankfurt, Untermainanlage 11, finden am 14. Juli um 19.30 Uhr und 16. Juli um 15.30 Uhr statt. Kartentelefon: 069 / 212-494 94

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