© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/23 / 14. Juli 2023

Zeitschriftenkritik: Mare
Von Marseille nach Grönland
Thorsten Thaler

Marseille, die zweitgrößte und zugleich älteste Stadt Frankreichs, gilt trotz aller Kulturgeschichte und mediterraner Lebensart zuallererst als „Brennpunkt sozialer Konflikte“, als „rauhes Pflaster“. So steht es in einem Städteporträt der zweimonatlich erscheinenden Zeitschrift mare (Nr. 158, Juni/Juli 2023) über die Hafenmetropole Marseille mit ihren rund 870.000 Einwohnern und den „bis ins Hinterland wuchernden Trabantensiedlungen“. Vornehmlich in den nördlichen Quartieren der Banlieue sei eine Parallelwelt entstanden, wo „quasi rechtsfreie Räume existieren“: Bandenkriminalität, Schießereien und „blutige Kämpfe, die rivalisierende Gangs miteinander ausfechten“, systematischer Drogenhandel, Gewaltverbrechen und oft tödliche Vergeltungsakte seien in den hastig hochgezogenen Einwanderervierteln an der Tagesordnung. Marseille spiegele die derzeitige Befindlichkeit Frankreichs. „Das Fragile trifft hier auf das Aufrührerische, kaputte Gestalten sind allgegenwärtig, Prekarität und besorgniserregende Armut sind mit Händen zu greifen.“

Von dem Für und Wider einer geplanten ersten Landstraße auf Grönland handelt der Beitrag „Highway im Nichts“. Zwischen dem Küstenort Sisimiut, der mit 5.500 Einwohnern zweitgrößten Stadt, und der Siedlung Kangerlussuaq mit dem wichtigsten Flughafen der Insel soll eine 170 Kilometer lange Landverbindung geschaffen werden, die Arctic Circle Road. Befürworter des Projekts versprechen sich davon, den Tourismus anzukurbeln, den Warenverkehr zu vereinfachen und damit den Einheimischen mehr Komfort zu bringen. Geplant sei auch eine Stichstraße zur Unesco-Welterbestätte Aasivissuit-Nipsiat, einer Kulturlandschaft mit 4.200 Jahre alten Spuren menschlicher Besiedlung. Einer der vehementesten Kritiker des Straßenbaus ist ein Ausländer: der 78jährige Deutsche Frieder Weiße. Er lebt seit sieben Jahren jeden Sommer in einer Hütte neben dem Flughafen und betreut den Campingplatz der Gemeinde. In grauer Vorzeit betätigte er sich als Fluchthelfer für DDR-Bürger und saß in Bautzen II ein, im Hochsicherheitstrakt der Stasi für politische Sondergefangene. Später studierte er Ethnologie, 2006 reiste er das erste Mal nach Grönland. Heute habe er es sich zur „Lebensaufgabe“ gemacht, sich „lautstark gegen den Bau der Straße aufzulehnen“.

Weitere Beiträge sind Hoffmann von Fallersleben und seiner 1841 auf Helgoland geschriebenen Hymne „Das Lied der Deutschen“ gewidmet sowie dem philippinischen Nationalhelden Lapu-Lapu. Der Kriegerhäuptling der Insel Mactan wollte sich 1521 nicht dem in spanischen Diensten stehenden Entdecker und Eroberer Ferdinand Magellan unterwerfen und schlug dessen Angriff zurück. Dabei kam Magellan ums Leben. 

Kontakt: mareverlag GmbH & Co. oHG, Pickhuben 2, 20457 Hamburg. Das Einzelheft kostet 13,50 Euro, ein Jahresabo 67,50 Euro.

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