Ein vom Frühlingsblumenduft berauschter Grashüpfer springt kreuz und quer über eine grüne Wiese. Der Grashüpfer, das ist in diesem autobiographischen Romanversuch der von Jan Faktor installierte Erzähler, die Wiese die eigene Lebensgeschichte und der Frühlingsblumenduft die zu exzentrischen expressionistischen Wortschöpfungen neigende Fabulierkunst des Autors. So stellt man sich am besten Jan Faktors voriges Jahr für den Deutschen Buchpreis nominierten „Trottel“ vor.
„Wenn ich nur wüßte, was sich aus dem porösen Haufen meiner Vergangenheit überhaupt lohnt zu erzählen“, steht als Bekenntnis am Anfang der Lebenserinnerungen, die das Grundgerüst des Textes bilden. Die Zweifel an der Substanz dessen, was der Erzähler erfolglos zu einem Roman zu verdichten versucht, sind ein Leitmotiv dieses stark fragmentierten Prosagespinstes. „Erzähle ich zu viel Überflüssiges – oder sogar den reinen, unsauber randomisierten Unsinn?“, heißt es hundert Seiten später. „ Ja!“ möchte man da als Leser sogleich ausrufen. Und freimütig räumt auch das erinnernde Ich ein: „Ich habe inzwischen immer weniger Lust, beim Aufbau dieses Prosaversuchs auf zeitliche Abläufe zu achten, also zu versuchen, dem mittlerweile angerichteten Chaos [...] gegenzusteuern.“
Mit anderen Worten: Das Chaos hat Methode bei Jan Faktor. Und der Unsinn auch: Kuriose Fußnoten, eine experimentell-expressionistische Wortakrobatik und die Abschweifung als zentrales Strukturelement sorgen für ein wirres Erzählgewebe, das eher ein satirischer autobiographischer Essay, ein verschriftlichter Kabarett- oder Poetry-Slam-Auftritt ohne Zeitbegrenzung ist als das, was es laut Schutzumschlag sein soll: ein Roman. Für den Rezensenten grenzt es an wissenschaftliche Friemelarbeit, aus dem unsortierten Gedankensalat, den der 1951 in Prag geborene Autor seinen Lesern serviert, das Substrat einer konsistenten Handlung herauszudestillieren. Immerhin folgende biographische Konturen werden sichtbar:
Er erlebte die Niederschlagung des Prager Frühlings
Der von Juden aus Lemberg (Lwiw) abstammende Ich-Erzähler, dessen Mutter und Großmutter Auschwitz überlebten, absolviert das „Gymnasium in Prag 7“. Als 17jähriger erlebt er das Scheitern des Reformkommunismus unter Alexander Dubček mit, dessen Prager Frühlingsboten gegen „schnell alternde Opportunisten, Schleimer und Dummköpfe“ in der Regierung der CSSR das Nachsehen haben. Nur wenig charmanter ist sein Urteil über den kommunistischen deutschen Bruderstaat, die „Deutsche Reichsbananenrepublik“, bewundert zwar als „Hort des todesnahen Akkuratentums“, aber auch verspottet als „Gehege von ideologisch morphinisierten Quadratschädeln, die von den Staats-, Einheitspartei- und Medienorganen ununterbrochen verblödet wurden“.
Damit ist die Brücke geschlagen zum linksgrünen Regenbogenimperium der Gegenwart, an dem sich Faktors Angriffslust mit ein paar ironischen Spitzen gegen dessen gender-„lügopedisches“ Sprachjakobinertum aber nur mit angezogener Handbremse abarbeitet. Er darf es sich ja nicht mit dem Milieu verscherzen, dem er selbst entstammt und dessen Leser er braucht.
Sein Studium in der Hauptstadt der damaligen Tschechoslowakei bricht der renitente Held, offiziell aus gesundheitlichen Gründen (Magenprobleme), ab. Seine Tante, Abteilungsleiterin in einem Prager Forschungsinstitut, verschafft ihm eine Arbeit als Statistik-Hilfskraft für „sozialistische Verzweiflungsanalysten“. 1969 fällt sie wegen ihrer kritischen Haltung zum sowjetischen Einmarsch in Ungnade, landet in Dissidentenkreisen. Das wird wegweisend für ihren Neffen. Der trägt brav seine Zahlen in Tabellen ein, hält es aber bald in den schlecht belüfteten Büroräumlichkeiten nicht mehr aus. Auch emotional geht es ihm schlecht, denn die Freunde aus der Schulzeit haben sich zerstreut. Er fühlt sich verloren. Während einer Mittagspause streckt ihn die Hitze nieder. Er macht die Bekanntschaft einer Gruppe junger Touristen bzw. Trotzkisten aus der „Deutschen Durchschnittsrepublik“, die sich seiner mit sozialistischer Brüderlichkeit annehmen und von denen er vor allem die weiblichen Exemplare in Erinnerung behält. Es ist der Beginn einer lebenslangen Leidenschaft – für Deutschland. Als Tscheche mit jüdischen Wurzeln darf er sich sogar über „die Überlegenheit der germanischen Rasse auslassen“, natürlich aber nur ironisch gebrochen.
Er wird Lkw-Fahrer für eine Wohnungsbaugesellschaft, hat einen kleinen Unfall und wechselt zum Militär. Als Armeebäckereifahrer fährt er Brötchen aus. Noch einmal liebäugelt er mit einem Studium, büffelt für die Aufnahmeprüfung an einer Theaterhochschule. Helena, seine deutlich ältere „vollplatonische Geliebte“, eine „dogmatische Fortschrittshysterikerin“ mit kommunistisch-kulturrevolutionärer Gesinnung, ist seine intellektuelle Mentorin in dieser Zeit. Der Möchtegernstudent entdeckt die Schriften Ernst Tollers, Walter Hasenclevers und Georg Kaisers für sich. Doch bei der Aufnahmeprüfung rasselt der Trottel durch. Und Helena endet wie so viele gläubige Kommunisten: als Regimeopfer. In ihrem jugendlichen Freund reift der Entschluß, seiner tschechischen Heimat endgültig den Rücken zu kehren. Infolge einer so von der FDJ sicher nicht intendierten sozialistischen Jugendverbrüderung reist er als Dauerpendler bereits seit einiger Zeit regelmäßig mit dem Zug zu seinen Ost-Berliner „Marxistenfreunden“.
Bei einer geselligen Zusammenkunft der deutsch-demokratischen Hausbesetzerszene am Prenzlauer Berg lernt er seine spätere Frau kennen, womit sein ausgeprägter Hang zum deutschen Wesen seine Vollendung findet. Seine zukünftige Gemahlin und er beziehen eine der leerstehenden Wohnungen und richten sich ein in den Trümmern des bereits verfallenden Kommunismus, dessen endgültigen Zusammenbruch er schließlich als Mitarbeiter einer Zeitung des Neuen Forums mit herbeiführt, die im Wendeherbst 1989 bei dem Ehepaar zu Hause feierlich gegründet wurde. Sehr zur Freude der Stasi. Bemerkenswert: Faktor schildert in Kapitel 14 Schikanen, die bis in Details dem gleichen, was seine Kollegin Herta Müller mit der Securitate erlebt hat.
Die gnadenlos sarkastische Abrechnung mit dem Irr-Sinn des real existierenden Sozialismus, der in Jan Faktors Darstellung zu seiner eigenen Satire wird, prägt ein leichter, spielerisch-heiterer Ton. Das Buch hat aber auch eine ernste Seite. Es dient nämlich auch der offenkundig selbsttherapeutischen Aufarbeitung des Todes seines an Schizophrenie erkrankten Sohnes, der sich im Alter von 33 Jahren das Leben nahm und – so stellt es sich im Ergebnis dem Leser dar – auch an den inneren Widersprüchen einer antiautoritären Erziehung zerbrochen ist. Die Tragödie stürzte den Autor 2012 in eine schwere Krise. „Mir war von Anfang an klar, daß es bei der ganzen Trottelei unmöglich wäre, den Tod meines Sohnes auszusparen“, sagte der Autor im letzten September anläßlich des Erscheinens von „Trottel“ in einem Interview mit der Berliner Zeitung. Allerdings war er sich zunächst nicht sicher, ob die Fragmente der eigenen Erinnerung für ein ganzes Buch reichen würden. Der Text sei dann aber „wie von selbst“ von innen gewachsen. „Alles, was für die Geschichte wichtig war, ist jetzt im Grunde drin, geboren mehr oder weniger aus Splittern.“
Kommunismus-Kritik gegen Trans-Trend
Für „Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag“ (2010) wurde der aus Tschechien stammende und 1978 nach Ost-Berlin emigrierte Autor, der mit Christa Wolfs Tochter Annette Simon verheiratet ist, erstmals für den Deutschen Buchpreis nominiert. Im letzten Jahr schaffte er es mit „Trottel“ erneut in die Endauswahl. Am Ende hievte der von der deutschen Kultur-Avantgarde in „gruppenhypnotischer Bereitschaft“ ekstatisch umtanzte Genderkult Kim de l’Horizons „Blutbuch“ auf den Thron der wichtigsten Auszeichnung für zeitgenössische deutsche Literatur. Kommunismus-Kritik gegen Trans-Trend, alter weißer Mann gegen trans-identitären Weißnichtwas – es war klar, wie dieses Kräftemessen ausgehen mußte.
Allerdings hatte Faktor da bereits eine andere begehrte Auszeichnung in der Tasche: den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis der Stadt Braunschweig und des Deutschlandfunks. „Jan Faktor bringt das traditionelle Genre des Schelmenromans zum Explodieren“, begründete die Jury ihre Entscheidung für den Deutschtschechen. „Als ‘Trottel’ (...) erzählt er sein Leben – aber wilder, überdrehter, radikaler, als man es sich bislang vorstellen konnte.“
Es gibt in dem prämierten Werk tatsächlich Passagen, die so gut sind, daß man schallend auflachen muß. Etwa wenn der Erzähler, der bekennt, von Natur aus eine starke Abneigung gegen „sprachliche Klischees und abgenutzte Redewendungen“ zu haben, im Kapitel „Siebzehnmal darfst du raten“ peinliche Anglizismen verulkt – oder wenn er den verkannten Wert von Wollmäusen erläutert.
Jan Faktor: Trottel. Roman, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022, gebunden, 400 Seiten, 24 Euro