© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/23 / 14. Juli 2023

„Vom sichern Port läßt sich’s gemächlich raten“
Zeitgeschichte: Nach dem Mauerbau 1961 forderte der Schriftsteller Günter Grass Autoren in der DDR zum öffentlichen Protest auf
Thorsten Hinz

Immer wieder verwundert die Leichtfertigkeit, mit der von russischen Künstlern und Sportlern verlangt wird, Bekenntnisse zum Ukraine-Krieg abzulegen als Entree, um im Westen auftreten oder an Wettkämpfen teilnehmen zu dürfen. Was natürlich heißt, daß sie sich gegen ihre Staatsführung positionieren sollen, je schärfer, desto besser. Es wird nicht bedacht, was sie bei ihrer Rückkehr nach Rußland erwarten oder was das für ihre dort lebenden Familienangehörigen bedeuten würde. Bewirken können sie gar nichts. Man sieht es an dem Dissidenten Alexej Nawalny, der in der Annahme aus Berlin nach Moskau zurückgekehrt war, seine Verhaftung und die anschließende Kampagne seiner Anhänger würden eine Revolte auslösen. Nun steht ihm ein Schicksal ähnlich dem von Julian Assange bevor.

Gut gemeint, aber weltfremd und unsensibel handelte bereits Günter Grass, als er nach dem Mauerbau am 13. August 1961 die Autoren in der DDR zum öffentlichen Protest aufforderte. Mit seinem Kollegen Wolfdietrich ­Schnurre verfaßte er einen offenen Brief an die Mitglieder des Deutschen Schriftstellerverbandes (DSV), den er persönlich in der Verbandszentrale in der Berliner Friedrichstraße übergab. Darin heißt es: „Wenn westdeutsche Schriftsteller sich die Aufgabe stellen, gegen das Verbleiben eines Hans Globke in Amt und Würden zu schreiben; wenn westdeutsche Schriftsteller das geplante Notstandsgesetz des Innenministers Gerhard Schröder ein undemokratische Gesetz nennen; wenn westdeutsche Schriftsteller vor einem autoritären Klerikalismus in der Bundesrepublik warnen, dann haben Sie genauso die Pflicht, das Unrecht vom 13. August beim Namen zu nennen.“ An die DDR-Autoren erging die Aufforderung, darauf genauso offen zu antworten, „indem Sie entweder die Maßnahmen Ihrer Regierung gutheißen oder den Rechtsbruch verurteilen“. Eine „Innere Emigration“ gebe es heute so wenig wie in der NS-Zeit. „Wer schweigt, wird schuldig.“

Böll und Enzensberger reagierten abweisend

Natürlich gab es von östlicher Seite keine oder genau entgegengesetzte Reaktionen. Interessanter waren die Reaktionen im Westen. Der Schriftsteller und Philosoph Ludwig Marcuse teilte Grass aus seinem kalifornischen Exil mit, sein Brief sei sympathisch, aber er würde ihn nicht unterschreiben. Er fordere zum „Martyrium“ auf, das politisch nichts bewirken würde. In der Süddeutschen Zeitung schrieb der Schriftsteller W. E. Süskind, der Brief komme einer Erpressung gleich. Pharisäerhaft sei es, auf  die eigene kritische Haltung zur Bundesrepublik zu verweisen. Auch habe es sehr wohl eine „Innere Emigration“ gegeben.

Die konservative Wochenzeitung Christ und Welt meinte, die Aufforderung von Grass und Schnurre kalkuliere zu wenig die Situation der angesprochenen Schriftsteller ein. Bei den beinharten Kommunisten stoße der Appell ohnehin auf taube Ohren. Wer Vorbehalte gegen den Mauerbau hege, würde sie lieber verstecken. Und wer in der DDR bereit sei zum Protest, den müsse der selbstgerechte Tonfall verletzen. Die Briefschreiber hätten die eigene Ehrenhaftigkeit allzu sehr betont und nicht bedacht, was den Adressaten blühte, sollten sie protestieren: „Denn in diesem Fall wären sie automatisch Zuchthauskandidaten – während die Absender im sicheren Hafen keine Repressalie trifft.“

Geradezu schroff reagierte Heinrich Böll. Es gehöre „nicht der geringste Mut dazu, das Selbstverständliche zu sagen: daß ich gegen die Mauer bin, froh über jeden, dem die Flucht gelingt“. Doch den Mut hätte er nicht, „den Schriftstellern in der Zone Selbstmord anzuraten. Ich weiß, welche Folgen Aufstände in Gefängnissen haben. Es ist kriminell, große Worte auszusprechen, wenn man sie nicht halten kann; falsche Phrasen erhöhen den Brechreiz, vergrößern das Elend.“

Hans Magnus Enzensberger, an den die Aufforderung ergangen war, seine angeblich indifferente Haltung zum SED-Regime zu überdenken und öffentlich Abbitte zu leisten, wies die Zumutung scharf zurück. Er verteidigte seine Kontakte mit DDR-Autoren und eine in Leipzig absolvierte Lesung. „Ich widersetze mich heute wie eh und je dem deutschen Bürgerkrieg, zu dem auf beiden Seiten gerüstet wird. Die Möglichkeiten eines Schriftstellers, ihm zu wehren, sind gering. Ich kann mich nicht dazu bereiterklären, die Bewohner der DDR deklamatorisch zu bedauern und faktisch zu ignorieren: Deshalb habe ich in Leipzig vorgelesen, was die Regierung der DDR mir dort zu veröffentlichen unmöglich macht.“

Marcel Reich-Ranicki nahm die DSV-Präsidentin Anna Seghers in Schutz. Ihr war vorgeworfen worden, daß sie die Mauer „schweigend hinnahm und als Mitglied ihrer Partei, der SED, sogar billigte und forcierte“. Das seien, so Reich-Ranicki, zwei kontradiktorische Behauptungen. Sollte die Seghers geschwiegen haben – das wußte er aus seiner Erfahrung im kommunistischen Polen –, würde das eher für sie sprechen. Dürfe man denn ernsthaft „von einem prominenten DDR-Autor (verlangen), daß er nicht nur eine Befürwortung der Mauer verweigert (denn Schweigen kommt in diesem Fall einer Weigerung gleich), sondern auch öffentlich gegen diese Maßnahme protestiert? Ich erlaube mir, an den Tell zu erinnern: ‘Vom sichern Port läßt sich’s gemächlich raten.’“

Keiner der Genannten hegte irgendwelche Sympathien für den DDR-Staat. Aber sie hatten noch Schillers „Tell“ gelesen – und verstanden.