Auf Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier lassen viele Ahrtaler nichts kommen. „Der Mann ist wirklich sehr zugewandt“, sagt Sebastian Kläs. „Der will wirklich hören und verstehen, wie es uns hier geht.“ Steinmeier war bei Kläs bereits im Oktober 2021 zu Gast. In dessen Haus hat er sich ohne Presse und ohne Polit-Troß zeigen lassen, wie hoch die Flut gestiegen war. „Hier“, sagt Kläs und zeigt es wieder an dem Fensterrahmen im ersten Stock, „bis hier stand die Ahr. Schauen Sie raus, bis zu den Bergen gegenüber war nur Wasser.“
Um den 14. Juli herum, zum zweiten Jahrestag der verheerenden Flut in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen, geben sich die Politiker im Ahrtal die Klinke in die Hand. Auch der Bundespräsident war wieder in Mayschoß. Am vergangenen Sonntag war er dort, im „Bahnsteig 1“, dem Lokal von Thorsten Rech, und gab sein Sommerinterview im ZDF. Die JUNGE FREIHEIT besucht seit der Katastrophe immer wieder Rech und seine Schicksalsgenossen in Mayschoß, Dernau und Bad Neuenahr. Nur so läßt sich eine Entwicklung erkennen, nicht vom Hörensagen, sondern als Augen- und Ohrenzeuge.
Die Menschen haben noch immer Angst vor jedem Regen
„Es geht bergauf“, sagt Rech, der auf der Terrasse seines Restaurants „Bahnsteig 1“ sitzt. „Das sieht man hier überall im Tal, aber es könnte schneller gehen.“ Zwischen Lüftungsrohren, die noch auf ihren Einbau warten, und Fliesenstapeln, Flaschenkästen, Kartons sitzt Rech auf der Terrasse seiner Gaststätte und blinzelt gelassen in die Sonne. „Wo geht es denn hier zum Rotweinwanderweg?“ möchte ein junges Pärchen von ihm wissen. „Wo wollt ihr denn hin, also in welche grobe Richtung?“ fragt Rech die beiden. Nach Dernau wollen sie, mit Edel-Rucksack und leichten Turnschuhen. Wanderer sehen anders aus. „Unser neues Zielpublikum“, sagt Rech, nachdem er ihnen den Weg erklärt hat und die beiden Richtung Ahrbrücke unterwegs sind. Die Touristen kommen wieder. Es mögen andere sein als vor zwei Jahren. Menschen, die vor der Katastrophe noch nie etwas vom Ahrtal gehört haben.
Rückblick: Der Juli 2021 beginnt verregnet. Aus dem Regen wird Starkregen, ausgelöst durch das Tiefdruckgebiet Bernd, das sich am 13. und 14. Juli über Mitteleuropa festgesetzt hatte. Der Deutsche Wetterdienst warnt am 14. Juli morgens vor Unwettern in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. In Rheinland-Pfalz wird ein Hochwasser-Höchststand von 5,19 Metern am Pegel Altenahr prognostiziert. Zum Vergleich: Im Jahr 2016, dem letzten Hochwasser, waren es nur 3,71 Meter. Um 17.40 Uhr wird Alarmstufe 4 ausgerufen, im Kreis Ahrweiler bildet sich ein Krisenstab in der Kreisverwaltung Bad Neuenahr-Ahrweiler. Die Prognose für den Hochwasserpegel lautet um 20.43 Uhr: 6,81 Meter. Zwei Minuten später gibt es den letzten nachprüfbaren Wert: 5,75 Meter. Danach fällt der Strom aus, die Meßinstrumente sind tot. Doch das bemerkt der Krisenstab vermutlich 90 Minuten nicht. Er geht von alten Daten aus. Erst um 23.09 Uhr löst er Katastrophenalarm aus. Bilanz: 40 Kilometer entlang der Ahr ist weit über 250 Meter rechts und links des Flusses alles überflutet. Mindestens 186 Tote. Den Schaden schätzt der Projektbericht „Kosten durch Klimawandel“, eine Studie der Prognos AG Düsseldorf im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz, auf 40,5 Milliarden Euro.
Mayschoß sah, nachdem die Wassermassen abgelaufen waren, aus wie ein durch Krieg verwüstetes Dorf. Vermutlich raste eine neun Meter hohe Flutwelle durch das Dorf. Zwei Jahre später sind immer noch erhebliche Schäden, doch genauso der unglaubliche Aufbauwille zu sehen. „Die Touristen kommen wieder ins Ahrtal“, sagt Rech. Gaststätten haben wiedereröffnet, die Straßen sind befahrbar. „Ohne die damaligen freiwilligen Helfer allerdings, wären wir noch nicht so weit.“ Irgendwann im August will Rech seine Gaststätte wiedereröffnen. Bei seinem Nachbarn Sebastian Kläs wird es noch etwas dauern. Der Koch betreibt in fünfter Generation sein Hotel und Weinhaus. Die Flut hinterließ bei ihm einen geschätzten Schaden von drei Millionen Euro. „Der Architekt sagte kürzlich, daß jetzt die Wände trocken seien.“ Doch woher kommt dieser Durchhaltewille? „Klar, es kam schon manchmal der Gedanke, alles hinzuwerfen. Aber dann sagst du dir, daß das Haus beide Weltkriege überstanden hat. Da muß ich sagen, ich bin es meinen Vorfahren schuldig, und wir sind heute in einer komfortableren Situation.“
„Es gibt hier wirklich Leuchttürme“, sagt Winzerin Tanja Lingen aus Bad Neuenahr. „Ich bin hier auf dem Hof durch die ganzen Bauarbeiten, neben der eigentlichen Arbeit auf dem Weingut, ja fast ein wenig gefangen. Vor kurzem war ich in der Stadt und zutiefst erstaunt. Irre, was sich da alles getan hat.“ Im Grunde ist sie selbst solch ein Leuchtturm. Ihr Weingut ist fast fertig. Vor zwei Jahren hatte die Flut den riesigen Keller überflutet. „Wir haben sicher zwei Millionen Liter Wasser rausgepumpt.“ Ein Jahr ließ die Familie das Gebäude trocknen. „Wir haben die Katastrophe als Chance genutzt, neu denken zu können. Für die nächste Generation. Unsere zwei Jungs werden das Gut übernehmen.“ Die zwei Jahre waren ein harter Weg. Seit April sind sie im Auszahlungsverfahren drin. Lingen sagt, daß es ihr völlig klar sei, daß der Staat Nachweise verlangen muß, doch „es ist immer noch ein Papierkrieg, der ist nicht weniger geworden. Unter schneller und unbürokratischer Hilfe verstehe ich etwas anderes“.
Lingens Hof ist ein Sonderfall. Vor der Flut betrieben sie Weinbau, Privathaushalt und Ferienwohnungen mit einer Heizung. Zwar bekommt Lingen die Gelder aus dem Topf der Infrastrukturbank Rheinland-Pfalz (ISB), aber dazwischengeschaltet sind für die Ferienwohnungen die IHK und für das Weingut das Dienstleistungszentrum Ländlicher Raum. Die Privatwohnung bezahlt direkt die ISB. „Aber unterm Strich würde ich sagen, wir können die Gelder abrufen, es ist nicht einfach, aber es funktioniert. Und die Politiker unterstützen uns ebenfalls. Gerade unser Landtagsabgeordneter. Der ist in der Opposition, der Kreis Ahrweiler ist tiefschwarz müssen Sie wissen, und da kann er eben schön viel rummeckern.“
Wer durch die Straßen geht, sieht vor einigen Häusern Sandsäcke liegen. „Vergangene Woche war hier wieder Starkregen. Das muß man verstehen, manche Menschen haben bei Regen einfach nur Angst“, erzählt Lingen. Ein Taxifahrer bestätigt das. „Ja, wir bauen auf“, sagt der Mann, „aber unter der Oberfläche brodelt es doch“, sagt der Kroate, der seit 30 Jahren im Ahrtal lebt. „Ich selbst habe in der Nacht gedacht, ich müßte sterben. Ich war ein halbes Jahr zuvor in eine Souterrainwohnung eingezogen. Alles neu, sehr schick. Und dann war in zwei Minuten alles unter Wasser. Die Wellen schleuderten mich immer wieder gegen die Wand.“ Während er das erzählt, laufen ihm Tränen über die Wangen, und dann verstummt er. Zur Zeit wohnt der Mann in einem Lagerraum. 640 Euro Miete. „Von meinem Gehalt kann ich mir nichts anderes leisten, die Preise sind hier enorm.“
Wohnungsmangel ist ein Problem. Die Sanierungen und Renovierungen dauern. Es geht nicht nur um schleppende Auszahlungen durch Versicherungen, es fehlt an Handwerkern, zumal solchen, die ihren Beruf verstehen. „Meine Kollegen und ich rechneten zu Anfang mit sechs bis acht Jahren Zeit für den Wiederaufbau“, erzählt ein Handwerker aus dem Ahrtal, „und jetzt mit fünf weiteren Jahren für die Ausbesserungen durch Pfusch am Bau“. Die Schadensbeseitigungen werden demnächst ein großes Thema werden, prophezeit der Mann. Er sieht den Fehler auf der Seite der Versicherungen. „Die schicken keinen Sachverständigen zur Bauabnahme. Ohne Kontrolle kannst du murksen.“
Ein Sachverständiger, er möchte seinen Namen nicht in der Zeitung lesen, berichtet, daß Handwerker ohne Vorkenntnisse alte Bruchsteinwände und Fachwerkhäuser mit Gipsputz ausbessern würden. „Himmel, so etwas geht nicht, das muß wieder runter.“ Versicherungen würden die Entschädigungssummen drücken, zwischen 30 und 35 Prozent unter Preis. „Dabei haben die Versicherungen allein durch die ehrenamtlichen Helfer, die ja die Häuser vom Schlamm und Müll befreiten, pro Haus 80.000 bis 100.000 Euro eingespart. Hier wäre der Gesetzgeber gefordert. „Erstens muß Hochwasserschaden versichert werden, und zweitens sollten die Versicherungsnehmer vollen Versicherungsschutz erhalten“, meint der Handwerker.
Rech hat während des Gesprächs geschwiegen. Vielleicht wird der Bundespräsident während seines Ahrtalbesuchs sich einen Merkzettel schreiben. Lingen hätte da auch noch einen Wunsch: „Die Politik muß sich zwingend um mehr Hochwasserschutz kümmern. Wir müssen uns fragen, ob wir genügend Ausweichflächen, sichere Brücken und Dämme haben. Mir ist bewußt, daß zwei Bundesländer betroffen sind, was die Sache nicht vereinfacht. Aber zwei Jahre nach der Flut sehe ich hier zu wenig Ergebnisse.“ Wer sich das Sommerinterview angesehen hat, kann nur enttäuscht sein. „Es war eine Jahrhunderflut, wie wir gesagt haben. Deshalb darf es nicht erstaunen, daß zwei Jahre später einige Spuren dieser Flut noch sichtbar sind.“