Die Ampel-Koalition und die parlamentarischen Minderheiten, ein Dauerbrenner dieser Wahlperiode. In einer engagierten Rede hatte Unions-Fraktionschef Friedrich Merz der Ampel-Koalition eine „willkürliche Mißachtung der Rechte von Minderheiten“ vorgeworfen. Er fühlte sich herausgefordert, da die Ampel-Mehrheit den Antrag der größten Oppositionsfraktion auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zu Cum-Ex-Geschäften abgelehnt hatte. Ein in der Parlamentsgeschichte einmaliger Vorgang.
Zudem hatte ein CDU-Abgeordneter vor dem Bundesverfassungsgericht erfolgreich die Verabschiedung des umstrittenen Heizungsgesetzes wegen zu kurzer Beratungszeiten gestoppt. Ebenfalls einmalig.
In der Tat ließen Merz’ Worte aufhorchen. „Die Qualität einer Demokratie zeigt sich nicht darin, ob die Mehrheit jederzeit ihre Rechte durchsetzt. Die Qualität einer Demokratie zeigt sich, ob die Mehrheit Respekt und Achtung vor den Rechten der Minderheit in einem Parlament hat“. Eine Steilvorlage für die AfD, deren Fraktionsvizin Beatrix von Storch sich zu einer Zwischenfrage ermuntert fühlte. Doch Merz lehnte ab.
Die Brandmauer stand, die CDU/CSU-Abgeordneten applaudierten später stehend. Nach der Sommerpause wollen die Ampel-Fraktionen mit der Union über eine „grundlegende Reform der Geschäftsordnung des Bundestages“ sprechen, wie SPD-Parlamentsgeschäftsführer Johannes Fechner ankündigte.
Die selbsternannte Fortschrittskoalition ist getroffen
Bahnt sich da etwa eine Kehrtwende an im Umgang mit der AfD? Stichwort Bundestagsvizepräsident. Fraktions-Geschäftsführer Stephan Brandner warnt im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT vor Illusionen. „Von dieser Geschäftsordnungsreform hört man schon lange, beteiligt sind wir bisher nicht. Alles findet in faktischen Geheimzirkeln in Hinterzimmern statt. Es steht also zu befürchten, daß dieses Vorhaben der Altfraktionen zu einer noch stärkeren Ausgrenzung der AfD führen wird. Gut möglich, daß man beispielsweise die Rechte der Opposition auf einen Vizepräsidentenposten und Ausschußvorsitze noch weiter einschränken wird oder die Beschlußfähigkeit des Bundestages auch bei kaum anwesenden Abgeordneten als gegeben erklärt“. Nach bald sechs Jahren im Bundestag registriert Brandner eine Verhärtung der Fronten. „Insbesondere die Stärke der AfD in aktuellen Umfragen führt zu einer immer größer werdenden Ablehnung, natürlich aus Angst um die eigenen Posten. Es wird schmutzig sein, was die anderen vorhaben“.
Dabei liegen AfD und Union in ihrer Beurteilung gar nicht so weit auseinander. Die Union ist fassungslos, daß ihr das klassische Minderheitenrecht der Opposition verwehrt wird. „Das ist ein bemerkenswerter, geradezu historischer Vorgang: Das erste Mal seit 1949 wird ein von einer einsetzungsberechtigten Minderheit beantragter Untersuchungsausschuß nicht eingesetzt“, empörte sich Unions-Parlamentsgeschäftsführer Patrick Schnieder und kündigte eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht an.
In dem Antrag der Union geht es um die Frage, ob Hamburgs damaliger Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) 2016 Rückforderungen von Steuererstattungen in Höhe von 47 Millionen Euro aus kriminellen Dividendengeschäften (Cum-Ex) verjähren lassen wollte. Die Vorgänge rund um die Privatbank Warburg seien Hamburger Landesangelegenheiten im dortigen Untersuchungsausschuß und nicht Sache des Bundes, argumentiert die Ampel.
Da die Ampel-Koalition es mehrfach verhindert habe, Scholz vor den Finanzausschuß zu laden, sei ein Untersuchungsausschuß des Bundestags unausweichlich, begründet dagegen die Union ihr Vorgehen.
Als die Demokratie gefährdend empfindet die Union auch die gegen ihren Willen zustande gekommene Änderung des Bundestagswahlrechts. Die Streichung der Grundmandatsklausel, nach der Parteien auch dann in Fraktionsstärke in den Bundestag einziehen, wenn sie mindestens drei Direktmandate über die Erststimmen gewinnen, könnte zum parlamentarischen Aus nicht nur der Linken, sondern auch der CSU führen. Entsprechende Klagen liegen bereits beim Bundesverfassungsgericht.
Daß das höchste deutsche Gericht gerade die Verabschiedung des Heizungsgesetzes wegen zu kurzer Beratungszeit auf Antrag eines CDU-Abgeordneten gestoppt hat, hat die selbsternannte Fortschrittskoalition tief getroffen. War es bisher nur die AfD, die eine Verletzung ihrer Minderheitenrechte rügte, haben sich jetzt auch Union und Linke auf den Weg nach Karlsruhe gemacht. Das ramponierte Verhältnis von Mehrheit und Minderheit im Bundestag wird die zweite Hälfte der Wahlperiode prägen.