© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/23 / 14. Juli 2023

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Wenn ferne Länder locken
Paul Rosen

Sommerzeit ist Reisezeit. Das gilt besonders für die Bundestagsabgeordneten. Von Spitzbergen jenseits des Polarkreises bis Südamerika reichen in der parlamentarischen Sommerpause die Ziele von Delegationsreisen von Bundestagsausschüssen und von Parlamentariergruppen. Seit Wegfall der letzten Corona-Beschränkungen ist die Reisetätigkeit in diesem Jahr so heftig, daß Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) feststellte, der mit über vier Millionen Euro ausgestattete Reiseetat des Bundestages sei bereits zu 90 Prozent verbraucht.  

Präsidentin Bas ist übrigens auch gern auf Achse. In Lettland etwa besuchte sie ein Lieder- und Tanzfest. Offiziell hieß es in einer Mitteilung des Bundestages, Bas werde sich dort mit Amtskollegen aus dem Baltikum und Polen über die aktuelle Lage an der Nato-Ostflanke austauschen. Weitere Reisen der Präsidentin führten zwecks Lageaustausch nach Georgien und Moldau.

Für den Bildungsausschuß des Bundestages sind die fernsten Ziele die schönsten. In Brasilien gibt es den 325 Meter hohen Klima-Meßturm „Amazonian Toll Tower Observatory“. Und genau dort muß die Delegation, bestehend aus den Abgeordneten Holger Becker (SPD), Inge Gräßle und Monika Grütters (beide CDU), Friedhelm Boginski (FDP), Barbara Lenk (AfD) und Petra Sitte (Linke), natürlich hin. Naheliegender wäre vielleicht eine Reise zu Brennpunktschulen in Deutschland gewesen, um sich einen Eindruck über das marode Bildungswesen zu verschaffen. Doch lieber begeben sich Abgeordnete auf Auslandsreisen, denn Bildungs- und Forschungsaktivitäten sind angeblich selbst auf Spitzbergen so bedeutsam, daß sie auch von deutschen Politikern besichtigt werden müssen.

Bei den meisten Delegationsreisen fällt auf, daß der tiefe Graben zwischen der AfD und den anderen Fraktionen nicht existiert. Fast immer sind auch AfD-Abgeordnete mit von der Partie. Das gilt etwa für eine Reise des Verteidigungsausschusses in die USA. Überhaupt sind die USA traditionell ein beliebtes Reiseziel. Nur was ausgerechnet der Europaausschuß in der Neuen Welt wollte, erschließt sich nicht so richtig. Nach Kolumbien und Bolivien zieht es eine Delegation der Parlamentariergruppe Anden-Staaten.

Ein besonders beliebtes Reiseziel deutscher Politiker ist der afrikanische Kontinent mit seinen über 50 Ländern. Der Digitalausschuß des Bundestages steuert Kenia und Ruanda an, um sich über die digitale Transformation in beiden Ländern zu informieren. Schon vor Reiseantritt dürfte klar sein, daß das Internet besser funktioniert als in Deutschland. Die Parlamentsgruppe Westafrika hat im Staat Elfenbeinküste bei der Besichtigung einer Kakao- und einer Bananenplantage Lieferketten und die Digitalisierung in der Landwirtschaft im Blick. Was der Finanzausschuß in Nigeria wollte, wurde jedoch nicht so richtig klar. 

Und falls der Reiseetat des Bundestages in diesem Jahr nicht reichen sollte, ist das auch kein Problem. Im Haushaltsausschuß können die Abgeordneten eine Aufstockung ihres Reiseetats beschließen.