© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/23 / 14. Juli 2023

„Es fehlt an Feldherren
Interview: Der Widerstand gegen Hitler zählt zu den wenigen Traditionsgütern der Bundeswehr. Doch seit der „Zeitenwende“ braucht die auch Truppenführer als Vorbilder. Thomas Vogel, ehemals Bereichsleiter am Zentrum für Militärgeschichte, schlägt eine überraschende Lösung vor
Moritz Schwarz

Herr Dr. Vogel, ehrt die deutsche Bundeswehr den 20. Juli 1944 nicht genug?

Thomas Vogel: Tatsächlich gehört sie mit zu den ersten Institutionen, die den Widerstand geehrt hat. Bereits seit 1956 benennt sie Kasernen nach Persönlichkeiten aus seinen Reihen – als ein erheblicher Teil unserer Gesellschaft, geprägt von der Darstellung des 20. Juli in der NS-Propaganda, diese noch für Verräter hielt. Und dennoch fällt auf, daß das Potential diesbezüglich noch nicht ausgeschöpft ist. 

Inwiefern?

Vogel: Bedauerlich finde ich, daß Generalfeldmarschall Erwin von Witzleben noch keinen manifesten Eingang in die Bundeswehrtradition gefunden hat. Er war der erste ranghohe Truppenführer der Wehrmacht, der zudem sehr früh den verbrecherischen Charakter des NS-Regimes erkannte und dies auch recht unverhohlen bekannte. Für mich ist er neben Generalstabschef Ludwig Beck eine der aufrechtesten Gestalten in der Generalität der Wehrmacht. Er stellte sich auch sofort der ersten Militärverschwörung gegen Hitler im September 1938 – der sogenannten „Septemberverschwörung“ – zur Verfügung. Die dann leider der Appeasement-Politik der Westmächte zum Opfer fiel. Bereits pensioniert, stellte er sich auch dem 20. Juli zur Verfügung und war als neuer Oberbefehlshaber der Wehrmacht vorgesehen. Wie die meisten Mitverschwörer endete er deshalb am Galgen des NS-Regimes.

Wer wurde noch vergessen?

Vogel: Mir fällt da sofort einr weiterer fundamentaler NS-Gegner ein: Generalmajor Hans Oster. Schon als Oberstleutnant und Mitarbeiter von Admiral Wilhelm Canaris, Chef des deutschen Militärgeheimdienstes, war Oster treibende Kraft der Septemberverschwörung, die Hitler den Prozeß machen, notfalls sogar töten wollte. Auch nach ihrem Scheitern blieb er eine tragende Säule des Widerstands, bis er schließlich verhaftet und unter Verhöhnung des Rechts ebenfalls hingerichtet wurde.

Moment, ist es nicht völlig berechtigt, Hans Oster von einer Ehrung auszunehmen? Denn er tat 1940 das, was der 20. Juli eben nicht getan hat: Er verriet kriegswichtige Informationen dem Feind.

Vogel: Sein Landesverrat könnte tatsächlich eine Erklärung dafür sein, daß man ihn bewußt „vergessen“ hat. Doch verriet er die deutschen Angriffstermine auf Belgien und Holland in bester Absicht: Er wollte die Ausweitung des noch begrenzten Krieges zu einem europäischen und Weltkrieg verhindern. 

Er mag beste Absichten gehabt haben, was er aber getan hat, richtete sich nicht mehr nur gegen die verbrecherische Führung, sondern gegen seine Kameraden, die das mit Blut und Leben bezahlt hätten. 

Vogel: Das ist nicht von der Hand zu weisen, denn im Erfolgsfall hätte das Scheitern der „verratenen“ deutschen Westoffensive 1940 natürlich viele deutsche Soldaten das Leben gekostet. Andererseits wären unserem Land aber Millionen Tote und die totale Zerstörung und territoriale Zerstücklung bis beziehungsweise nach 1945 erspart geblieben. Allerdings geht es mir in Sachen Bundeswehrtradition um mehr als nur darum, daß einige Persönlichkeiten des 20. Juli noch nicht angemessen berücksichtigt wurden. 

Nämlich? 

Vogel: Ich will vorwegschicken, daß die Tradition der Bundeswehr auf mehreren Säulen ruht: Neben dem Widerstand gegen Hitler sind das die preußischen Militärreformer des frühen 19. Jahrhunderts – verkörpert vor allem durch Gerhard von Scharnhorst, Neidhardt von Gneisenau und Carl von Clausewitz – und, bislang aber noch etwas verhalten, die Revolution von 1848/49. 

Was bitte hat – trotz einiger Barrikadenkämpfe und des Gefechts von Kandern – das zivile Ereignis der Revolution von 1848 mit der Bundeswehr zu tun?

Vogel: Es geht zunächst um die bürgerliche Revolution von 1848/49 an sich, der wir uns als Demokraten heute durchaus verbunden fühlen können. Und sie war mehr als nur das Gefecht von Kandern. Die Preußen mußten bekanntlich eine ganze Armee aufbieten, um den badischen Aufstand niederzuschlagen. Die Revolutionäre siegten mitunter sogar – denken Sie an die Schlacht bei Waghäusel – und brachten auch einige militärische Begabungen hervor. Ich erinnere nur an Friedrich Hecker, Franz Sigel, Carl Schurz. Sie und andere stiegen im anschließenden Exil in den USA zu hohen Offizieren, ja Generälen während des dortigen Bürgerkrieges auf, alle in der Armee der Nordstaaten übrigens.

Preußische Reformer, Revolution von 1848/49, 20. Juli 1944 … eine Traditionssäule fehlt aber noch, oder?

Vogel: Richtig, und nicht die unwichtigste: die bald siebzigjährige Geschichte der Bundeswehr selbst. Auf sie wird im gültigen Traditionserlaß von 2018 besonders stark hingewiesen. Dabei ist die eigene Geschichte in der Bundeswehrtradition schon längst gut vertreten. Zahlreiche Kasernen und Einrichtungen tragen die Namen ehemaliger Verteidigungsminister oder führender Offiziere der Aufbaugeneration. 

Weshalb dann die starke Betonung im aktuell gültigen Traditionserlaß? 

Vogel: Weil eben doch noch ein gewisser Nachholbedarf besteht, besonders was die letzten dreißig Jahre mit ihren Auslandseinsätzen betrifft. Erst jüngst sind deshalb zwei Kasernen nach Soldaten benannt worden – Major Jörn Radloff und Hauptfeldwebel Tobias Lagenstein –, die im Einsatz in Afghanistan gefallen sind.

Dann steht es um die Traditionspflege in der Bundeswehr wohl gar nicht so schlecht?

Vogel: Nun ja, im großen und ganzen ist es um die Traditionspflege der Bundeswehr ganz ordentlich bestellt – doch eine nicht unbedeutende Schwachstelle hat sie: Sie bietet zu wenig Vorbild an militärischer Führungskunst und Exzellenz oder, etwas veraltet ausgedrückt, an klassischem Feldherrentum. In dieser Kategorie kann die Bundewehrgeschichte naturgemäß wenig bieten. 

Sie fordern die „Zeitenwende“ also auch in puncto Traditionspflege ein?

Vogel: Spätestens seit dem Angriff auf die Ukraine ist der Politik klargeworden, daß wir uns wieder auf die Möglichkeit von Panzerschlachten einstellen müssen. Wobei sich der konventionelle Krieg nach Art des Zweiten Weltkriegs tatsächlich nicht erst jetzt zurückmeldet. Er blieb immer mehr oder weniger präsent, siehe Zweiter und Dritter Golfkrieg. Doch wo sind, traditionspolitisch betrachtet, die Antworten hierauf? 

Interessieren sich Soldaten heute denn noch für Traditionspflege, ist das also wirklich so wichtig? 

Vogel: Alle Streitkräfte der Welt – und die Bundeswehr macht da keine Ausnahme – wollen sich an Beispielen militärischer Führungskunst der Vergangenheit orientieren. Sie können sogar daraus lernen. Hieraus ergibt sich fast zwangsläufig die Frage nach der Vorbildlichkeit – und damit Traditionswürdigkeit – früherer Militärführer und Feldherren. Da aber liegt für die Bundeswehr das Problem.

Warum? Die deutsche Militärgeschichte wird doch, weil sie gerade da Außergewöhnliches zu bieten hat, in der ganzen Welt bewundert. 

Vogel: Das ist vielfach die „Außensicht“ auf die deutsche Militärgeschichte. Sie verkennt aber den tiefen Bruch in der deutschen Geschichte infolge der NS-Diktatur. Die Bundeswehr kann deshalb bei der Generierung von Traditionsvorbildern nicht wahllos auf die Militärgeschichte vor 1945 zurückgreifen. Bereits die Traditionserlasse von 1965 und 1982 haben klargemacht, daß militärfachliche Exzellenz allein zur Traditionsstiftung nicht genügt, und der aktuelle von 2018 hat das unterstrichen. In der Folge verloren seit 1995 viele Kasernen ihre Namenspatrone, die als Angehörige früherer deutscher Armeen eben nur für militärisches Führertum standen, nicht aber für die heute relevanten politischen und moralischen Werte und Normen. Von den Militärführern der Weltkriege blieb letztlich nur Generalfeldmarschall Erwin Rommel übrig. Er war zwar nicht Teil des 20. Juli, doch setzte der Kreis um Stauffenberg auf seine Unterstützung – nicht zu Unrecht, wie wir heute wissen. Deshalb sind auch zu Recht zwei Kasernen nach ihm benannt. Doch auch der „Wüstenfuchs“ hat es mittlerweile schwer, muß sich gegen massive, oft unsachliche Angriffe behaupten, die den historischen Forschungsstand ignorieren. Man kann nur hoffen, daß das Verteidigungsministerium hier standhaft bleibt. 

Aber die Bundeswehr ehrt doch bereits eine ganze Reihe hoher Offiziere in Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944. Warum noch mehr?

Vogel: Das Problem ist, daß der 20. Juli hauptsächlich die Leistung einer Handvoll Generalstabsoffiziere war. Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Generalmajor Henning von Tresckow und andere waren eben nicht nur Widerständler. Viel zu oft wird vergessen, daß sie auch herausragende Generalstabsoffiziere waren. Doch können sie allein das von mir beschriebene Defizit nicht beheben. Es geht mir um eigentliche Truppenführer, die der Bundeswehr als Vorbild dienen können, weil sie sich aus heutiger Sicht sowohl in der taktisch-operativen Führung wie auch ethisch-moralisch ausgezeichnet haben. Mir fallen sofort einige Personen ein, die in diesem Sinn gut zur Bundeswehrtradition passen würden. Freilich sollte man nie makellose Helden ohne Fehl und Tadel erwarten, das wäre „unmenschlich“.

Und wer sind diese unbekannten Helden? 

Vogel: Etwa Generaloberst Rudolf Schmidt, ein erfolgreicher Armeeführer der Ostfront, der es in dieser exponierten Position auf erstaunliche Weise verstanden hat, sich den verbrecherischen Befehlen aus Berlin zu entziehen und in seinem Bereich handfest dagegen zu opponieren. Was zu seinem Glück nur mit seiner Entlassung bestraft wurde. Oder etwa General Wilhelm Ritter von Thoma, zuletzt Kommandeur des Deutschen Afrikakorps, bevor er Ende 1942 in Gefangenschaft geriet. Abhörprotokolle der Briten belegen, daß er im Gefangenenlager schnell zum Wortführer der Hitler-Gegner wurde und sich gewissermaßen um die Entnazifizierung seiner Mitgefangenen verdient machte. Seine Biographie muß noch gründlicher erforscht werden, läßt aber ein positives „Traditionszeugnis“ erwarten. Ferner Generaloberst Johannes Blaskowitz, Verfasser mehrerer Denkschriften gegen die Greueltaten der SS, sowie General Fridolin von Senger und Etterlin, der zuletzt in Italien besonnen gekämpft hat. An ihrer Distanz zum Nationalsozialismus besteht wenig Zweifel, und auch ihre militärischen Leistungen lassen sie als Vorbilder geeignet erscheinen. 

Gibt es gegen Ihre Idee bereits Widerstand?

Vogel: Nein, denn meine Gedanken dazu sind noch jung und unveröffentlicht. Natürlich wäre etwa eine Kasernenbenennung nach einem Wehrmachtgeneral ohne Bezug zum 20. Juli ein „heißes Eisen“ für die zuständigen Stellen in der Bundeswehr. Das Problem ist auch formaler Natur, denn es bedarf einer entsprechenden Initiative in der Truppe, um Kasernen zu benennen. Die Initiative soll „von unten“ kommen, was prinzipiell ja richtig ist. Die Truppe aber weiß im Regelfall über ihre Möglichkeiten nicht umfassend Bescheid. Sie könnte und sollte diesbezüglich vielleicht noch mehr vom Fachwissen des Potsdamer Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr profitieren. 

Könnte man das Problem nicht auch anders lösen? Etwa indem man den Traditionserlaß wieder lockert, zum Beispiel wie in seiner ersten Fassung von 1965, oder ihn vielleicht einfach ganz abschafft. 

Vogel: Ich glaube nicht, daß die Politik ausreichend Vertrauen in die historische Kompetenz und diesbezügliche Selbstdisziplin der Truppe hat, um auf eine Regelung völlig zu verzichten. Es handelt sich ja auch um komplexe historische Sachverhalte. Tatsächlich erfolgte die erstmalige Regelung 1965 nicht ohne Grund. Kaum zehn Jahre nach Gründung der Bundeswehr hatte der „Wildwuchs“ in Sachen Traditionspflege überhandgenommen. Was nicht verwunderlich war. Die kriegsgediente Aufbaugeneration hat oft wenig selbstkritisch die Tradition „ihrer“ Wehrmacht in der Bundeswehr fortgeführt. Die Bundeswehr war aber aus gutem Grund ein Gegenentwurf zur Wehrmacht. Das gab dann auch der Erlaß von 1965 noch relativ verständnisvoll für die Wehrmachtgeneration, aber doch recht unmißverständlich zu verstehen. Er ist insofern zeitgebunden und nicht einfach auf heute übertragbar. Und jede Neufassung seitdem, also 1982 und 2018, war Folge von einschlägigen Skandalen, aus denen die politische Leitung schloß, daß neuer Regelungsbedarf besteht. Das war aus meiner Sicht 1982 zwingender als zuletzt 2018. Die „Rudel-Affäre“ von 1976, die zum Erlaß von 1982 führte, hat doch ein ganz anderes Gewicht als die vielen kleinen Skandälchen des Jahres 2017, die auch nicht alle traditionsrelevant waren, und trotzdem zum politischen (Fehl-)Schluß führten, die Bundeswehr habe ein Haltungs- oder gar Rechtsextremismus-Problem. Um so froher kann man sein, daß der nachfolgende Erlaß von 2018 die Grenzen nicht noch enger zog, sondern, im Gegenteil, durchaus Spielraum gibt.

„Spielraum“? Hat denn der Erlaß von 2018 diesen nicht auf null verengt?

Vogel: Nein, keineswegs. Natürlich setzt die geforderte Wertegebundenheit nach wie vor Grenzen. Konkret genügt es aber, wenn jemand „vorbildlich oder sinnstiftend in die Gegenwart wirkt“. Ausdrücklich können „vorbildliche soldatisch-ethische Haltungen und Handlungen“ „aus allen Epochen der deutschen Militärgeschichte“ traditionswürdig sein. 

Was wäre Ihre Botschaft an die Verantwortlichen in Sachen Traditionspflege der Bundeswehr? 

Vogel: Mich würde freuen, wenn der vorhandene Spielraum genutzt würde, um für die Bundeswehr auch über den 20. Juli hinaus aus den Reihen der Wehrmacht traditionswürdige Vorbilder an militärischer Exzellenz zu gewinnen. Das ist möglich und sinnvoll. Zum anderen wünschte ich mir „höheren Ortes“ mehr Souveränität und Nachsicht im Umgang mit angeblichen Traditionsvergehen in der Bundeswehr, hinter denen sich meist nur Unwissenheit und Unbedarftheit, aber kein substantieller Rechtsextremismus verbirgt. 






Dr. Thomas Vogel, der Militärhistoriker und Oberstleutnant a.D. war von 1997 bis 2021 am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam tätig. Er leitete dort einige Jahre das Projekt Zweiter Weltkrieg und war zuletzt die Ansprechstelle für militärhistorischen Rat. 1959 in Karlsruhe geboren, aber in der Oberpfalz aufgewachsen, begann Vogel seine Bundeswehrlaufbahn 1978 in der Artillerietruppe, bevor er Geschichte und Germanistik studierte.