© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/23 / 14. Juli 2023

Erdoğan, die Nato und der Ukraine-Krieg
Die Nerven liegen blank
Albrecht Rothacher

Bislang spielte Erdoğan ein geschicktes Schaukelspiel. Als Nato-Partner trug er keine Sanktionen mit. Die Türkei verdient weiter gut an Umwegeexporten und an russischen Touristen. Dazu ließ der 69jährige Rosatom ein russisches AKW in der Türkei bauen, kaufte zu Washingtons Mißfallen ein russisches Flugabwehrsystem und blockierte zu Putins Freude den schwedischen Nato-Beitritt. Gleichzeitig lieferte er der Ukraine Kampfdrohnen. Als Vermittler des am 17. Juli auslaufenden Schwarzmeer-Getreidedeals, der den Export von ukrainischem Weizen nach Nordafrika und in den Nahen Osten ermöglicht, brachte er sich als einer der wenigen möglichen Friedensunterhändler ins Gespräch. 

Nun ließ Erdoğan bei Wolodymyr Selenskyjs kürzlichem Istanbul-Besuch die fünf in der Türkei internierten Asow-Kommandeure mit dem ukrainischen Staatschef ausreisen und begrüßte kurz vor dem Nato-Gipfel in Wilna die Mitgliedschaft der Ukraine sowie jene Schwedens – dies freilich mit der völlig illusorischen Forderung nach einem beschleunigten EU-Beitritt der Türkei. Über die Motive des alten Fuchses kann man nur rätseln. Mutmaßlich hat er wie viele andere Putin nach der Prigoschin-Revolte als seriösen Partner abgeschrieben. Dieser reagierte diesmal nicht wie üblich indirekt durch Scharfmacher wie Medwedew, sondern beschimpfte die Türkei persönlich als historischen Feind des Russentums. Die Nerven liegen blank, und das Wasser steht ihm wohl bis zum Hals.