Der Juni war regnerisch, die Berliner Höchsttemperaturen dümpelten zwischen 20 und 29 Grad. Am 4. Juni war es nachts 5 Grad kalt. Daher paßte es Gesundheitsminister Karl Lauterbach und Umweltministerin Steffi Lemke ins Konzept, daß das Thermometer am 26. Juni auf 31 Grad kletterte, bevor sie dann ihren Fünf-Punkte-Plan „Für den Schutz der Gesundheit und zur Vorsorge gegen die Folgen der Klimakrise“ präsentierten. Der enthält ein „Sofortprogramm Klimaanpassung“ mit der Förderung von „Klimaanpassungsmanager*innen“, ein neues „Klimaanpassungsgesetz“, eine „Klimaanpassungsstrategie“, das Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz und eine „Nationale Wasserstrategie“.
Lauterbachs dabei auch vorgestellter „Hitzeschutzplan für Gesundheit“ enthält weniger Klimawörter, ist aber am französischen „Plan National Canicule“ angelehnt: Es geht um die „Sensibilisierung der Bevölkerung“, die „Vermeidung von Todesfällen sowie Abmilderung von Krankheitsverläufen“, „Interventions- und Kommunikationskaskaden (Hitze-SMS) und die „Verbreitung der wissenschaftlichen Evidenz“. Denn „Hitzeschutz ist Lebensschutz. Alte Menschen, Pflegebedürftige, Vorerkrankte, aber auch Kinder, Schwangere und Menschen, die sich beruflich oder privat viel im Freien aufhalten, sind gefährdet, wenn Hitzewellen über Deutschland rollen“, so der SPD-Politiker.
Modellierte Zahlen der Hitzetoten in Größenordnung früherer Jahre
Vergangenes Jahr seien „zirka 4.500 Menschen an Hitze gestorben“. 2018 sollen es sogar 8.300 gewesen sein. Diese Zahlen sind keine Lauterbach-Erfindung, sondern sie stammen vom Robert-Koch-Institut (RKI), das von seinem Ministerium beaufsichtigt wird. Die Schätzungen des RKI zu „Hitzebedingter Mortalität“ wurden im Epidemiologischen Bulletin (42/22) veröffentlicht. 2021 starben danach 1.900 Menschen in Deutschland an Hitze – bei einem „95prozentigen Prädiktionsintervall von minus 500 und 4.500“. Die 500 „Untoten“ sind rein mathematisch, denn die Hitzetodeszahlen beruhen nicht auf Diagnosen oder Obduktionen, sondern auf einer komplexen Berechnung.
„In einigen Fällen, zum Beispiel beim Hitzeschlag, führt die Hitzeeinwirkung unmittelbar zum Tod, während in den meisten Fällen die Kombination aus Hitzeexposition und bereits bestehenden Vorerkrankungen zum Tod führt. Daher wird Hitze auf dem Totenschein normalerweise nicht als die zugrundeliegende Todesursache angegeben“, erläutert der neue Wochenbericht zur hitzebedingten Mortalität des RKI (23/23). Folglich müßten „statistische Methoden angewendet werden, um das Ausmaß hitzebedingter Sterbefälle abzuschätzen“. Dazu würden Mortalitätsdaten des Statistischen Bundesamtes (Destatis) und Temperaturmessungen des Deutschen Wetterdienstes (DWD) kombiniert. Und so werden aus durchschnittlich 19 Hitzetoten pro Jahr (Destatis), die 1.000 bis 8.300 des RKI.
Die Definition einer „Hitzewoche“ stammt vom RKI, allerdings ohne nähere Begründung: „Typischerweise wird ab einer Wochenmitteltemperatur von etwa 20 Grad ein hitzebedingter Anstieg der Gesamtmortalität sichtbar.“ Für die 4.500 Hitzetoten von 2022 gibt es ebenfalls eine Erklärung, obwohl die maximale Wochenmitteltemperatur voriges Jahr in allen Regionen „deutlich niedriger als 2018“ war: „Hier ist es denkbar, daß in einzelnen Fällen eine Kombination beider Faktoren (Covid-19 und zusätzliche Hitzebelastung) zum Tod geführt hat.“ Aber eine Differenzierung der Todesursachen sei „auf dem gegenwärtigen aggregierten Datenstand nicht möglich“. Und „für die Beurteilung klimabedingter Gesundheitsrisiken stellt die hitzebedingte Mortalität nur eine, wenn auch eine besonders drastische, Komponente dar“, schränkt das RKI ein.
Ähnliche Argumente verwendet die Studie „Hitzebedingte Mortalität in Deutschland zwischen 1992 und 2021“, die ein Team um Claudia Winklmayr (RKI) und Hans-Guido Mücke (Umweltbundesamt; Lemke unterstellt) im Deutschen Ärzteblatt 26/22 veröffentlicht hat: „Der Sommer 2018 war der zweitwärmste Sommer seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1881“, und die geschätzte Anzahl der hitzebedingten Sterbefälle sei „vergleichbar mit den historischen Hitzejahren 1994 und 2003“. Insbesondere in höheren Altersgruppen komme es regelmäßig zu einem Mortalitätsanstieg, denn hohe Außentemperaturen könnten „das Herz-Kreislauf-System stark belasten, etwa durch reduzierte Blutviskosität aufgrund des höheren Flüssigkeitsverlusts sowie durch die Herausforderung, die Körpertemperatur konstant zu halten“.
Die Hitzedauer hat überraschenderweise keinen Einfluß auf die RKI-Modellierung nach dem „generalisierten additiven Modell“ (GAM). Destatis ist mit seinen Zahlen zurückhaltender: Danach führten Hitzschläge, Sonnenstiche und andere durch Hitze oder Sonnenlicht verursachte Schäden im Durchschnitt der Jahre 2001 bis 2021 zu knapp 1.500 Krankenhausbehandlungen. „Als direkte Todesursache läßt sich Hitze bei durchschnittlich 19 Fällen pro Jahr allerdings selten feststellen.“ Oft erhöhe die Kombination aus Hitze und Vorerkrankungen das Sterberisiko. Hitzetage sind für Destatis solche mit Temperaturen von 30 Grad Celsius oder mehr.
„Ausreichende Flüssigkeitszufuhr und Aufsuchen schattiger Räume“
Die meisten Krankenhausbehandlungen (2.600) und vergleichsweise viele Todesfälle (41) aufgrund von Hitze oder Sonnenlicht gab es 2003 – ein Jahr mit 19 Hitzetagen in Deutschland. Bei alljährlich etwa einer Million Todesfällen sind solche kleinen Zahlen statistisch nicht wahrnehmbar. Die RKI-Studie empfiehlt bei Hitze das „Tragen luftiger Kleidung, ausreichende Flüssigkeitszufuhr oder das Aufsuchen schattiger oder klimatisierter Räume“ – doch letzteres würde den Stromverbrauch erhöhen und die „Klimaziele“ konterkarieren.
Die Krankheitsbehandlungen wegen Flüssigkeitsmangel stiegen von 2001 bis 2021 von 50.700 auf 107.500 jährlich. Der kausale Zusammenhang mit Hitze ist aber nicht geklärt. Mali hat über 29 Grad Jahresdurchschnittstemperatur, selbst Taiwan, Australien oder Israel liegen über 20 Grad, aber sie weisen keine expliziten Übersterblichkeiten durch Hitze aus; man hat sich eben angepaßt.
In Deutschland sterben deutlich mehr Menschen im Winter, etwa durch Lungenentzündungen, Blutdruckkrisen, Herzinfarkte und Schlaganfälle. Eine Studie in The Lancet Planetary Health (Vol. 5, 7/21) zeigte, daß der kältebedingte Tod global 9,4mal, in Europa 3,7mal, in Nordafrika 16,4mal und in der Subsahara-Afrika gar 59,3mal häufiger vorkommt. Ob Lauterbach daher im Herbst einen nationalen Kältegipfel organisiert?
RKI-Wochenbericht zur hitzebedingten Mortalität: