Daß die große Zäsur 2022, der Ukraine-Krieg und seine machtpolitischen Hintergründe, in die Traditionslinien der politischen Theorie eingeordnet wird, ist nicht erstaunlich. Der emeritierte Züricher Universitätsprofessor und Philosoph Georg Kohler zählt zu den kompetentesten Autoren, die dazu in der Lage sind. Erste Überlegungen zu dieser Thematik werden in der vorliegenden Sammlung von Texten vorgestellt.
Eine, wenn auch sehr idealtypische gegensätzliche Linie zog vor etwa zwanzig Jahren der US-Publizist und Neokonservative Robert Kagan aus: Er ordnete dem kriegsbereiten und -geübten US-Handeln den Planeten Mars und den Philosophen Thomas Hobbes zu, den Europäern hingegen den Planeten Venus und den Philosophen Immanuel Kant.
Heute läßt sich Kagans Diktum nicht nur für die USA und die von George W. Bush und seinem Nachfolger, dem „Friedensnobelpreisträger“ Barack Obama geführten Aggressionskriege, sondern ebenso für Rußland und Wladimir Putin anwenden. Kohler führt aus der antiken Geschichte den transepochal lehrreichen Melier-Dialog bei Thukydides an. Dort werden die Worte athenischer Gesandter überliefert, die den offenkundig unterlegenen Meliern mitteilen, „daß im menschlichen Verhältnis Recht gilt bei Gleichheit der Kräfte, doch das Mögliche der Überlegene durchsetzt, der Schwache hinnimmt“.
Auch in der neuzeitlichen Geschichte treten immer wieder Repräsentanten der realistischen Linie wie Machiavelli oder Hans Morgenthau auf, die in Kant ihren wichtigsten theoretischen Widerpart finden. Dieser konzipierte einen „großen Völkerbund“, der zu Entscheidungen „nach Gesetzen des vereinigten Willens in der Lage“ sei.
Der um 1989/90 und in den Jahren danach, vor allem durch die zunehmende globale Wirtschaftsverflechtung, erhoffte „weltbürgerliche Zustand“ ist nicht eingetreten. In welcher Weise sich eine multipolare Ordnung künftig durchsetzt, wird auch durch das Ergebnis des Krieges in der Ukraine mitbestimmt. Zumindest hat die brutale Realpolitik alle Utopien beendet, daß mit militärischen Großkonflikten zumindest in Europa nicht mehr zu rechnen sei.
Kohlers Band umfaßt noch weitere Beiträge des Autors, etwa verschiedene Paradigmen der politischen Philosophie oder die Unterscheidung von Rationalität und Vernunft. Ferner wird das Verhältnis von Demokratie und Philosophie problematisiert. Es bleibt zu hoffen, daß er sich zum Ukraine-Krieg noch ausführlicher äußert, als es in der aktuellen Schrift der Fall ist.
Georg Kohler: Putins Schatten und die Idee der politischen Vernunft. Zur Zukunft nach dem Ende der Geschichte, Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2023, gebunden, 288 Seiten, 28 Euro