Der politische Diskurs über die Menschenrechte erweckt heute mühelos den Eindruck, als handle es sich um im Jenseits von Zeit und Raum entstandene Normen, die im irdischen Diesseits absolute Geltung beanspruchen dürfen. Mit weniger Ewigkeitspathos betrachtet spiegeln sie jedoch, wie Karl Marx und Friedrich Engels rückblickend auf ihre konkreten Entstehungskontexte, die US-Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 und auf die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in den französischen Revolutionsverfassungen zwischen 1789 und 1793, nüchtern analysierten, nur Versuche wider, das spezielle bürgerliche Klasseninteresse als gemeinsames Interesse aller Menschen auszugeben. Menschenrechte sind Klassenrechte, die Menschenrechtskataloge folglich nichts anderes als Rechtfertigung und Verschleierung des mit Ewigkeitsanspruch ausgestatteten politischen Systems des Konkurrenzkapitalismus.
Daran hat sich bis heute im Kern nichts geändert. Auch die aktuelle Rhetorik der Menschenrechte unterschlägt regelmäßig ihre handfeste materielle Interessen verdeckende Funktion. Davon geht Rudolf Brandner in seinem Essay über „Die Ideologie der Menschenrechte und das Ethos des Menschseins“ aus. Lange verweilt der an Martin Heideggers Moderne-Kritik geschulte Freiburger Philosoph bei diesem Sachverhalt jedoch nicht. Stattdessen konzentriert er sich auf die inneren Widersprüche des Universalismus der Menschenrechte, die die Ideologie der Gleichheit, die Erlösung des Menschen von allen Unterschieden, propagiert. Mit der Konsequenz, daß der menschenrechtliche Moralimperialismus im 21. Jahrhundert verstärkt auf den Widerstand geschichtlich gewachsener nicht-westlicher Kulturen stößt, die wie die islamische ihr eigenes Menschenrechtsverständnis definieren. Mit der weiteren Konsequenz, daß das Scheitern dieser kosmopolitischen Expansion kompensiert wird, indem sie die Richtung ändert und die demokratisch-rechtsstaatliche Kultur des „alten weißen Mannes“ der Tyrannei der Menschenrechte unterwirft.
Aus dieser Anklage des Eigenen ergab sich seit der Jahrtausendwende in Westeuropa und den USA die Unkultur der Political Correctness, der Cancel Culture mitsamt der triumphierenden Inquisition aller geschichtlichen Vorbilder. Diese Autoaggression beeinträchtigt laut Brandner den Kulturgrund menschlichen Daseins und damit auch die Grundlage von Freiheit und Demokratie. Aber auch dieser nach innen gerichtete Kreuzzug der Menschenrechte dürfte am Widerstand der Realitäten scheitern. Sei es, daß die westlichen Gesellschaften sich zur Notwehr gegen seine Zumutungen wie die Massenmigration aufraffen, oder sei es, daß sie an ihnen zugrunde gehen und durch weltgeschichtlich andere Handlungssubjekte ersetzt werden.
Rudolf Brandner: Die Ideologie der Menschenrechte und das Ethos des Menschseins. Manuscriptum Verlag, Lüdinghausen 2023, broschiert, 108 Seiten, 18 Euro