© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/23 / 07. Juli 2023

Der verschenkte Sieg
Im Juli 1863 besiegen die Nordstaaten in der blutigsten Schlacht des Sezessionskrieges die abtrünnigen Konföderierten bei Gettysburg / Doch die Union läßt ihren Sieg ungenutzt
Alain Felkel

Die Schlacht ist verloren, der Norden vernichtend geschlagen. Wie gesät liegen Hunderte tote Yankees auf dem Schlachtfeld von Chancellorsville hundert Kilometer südwestlich von Washington. Pferdekadaver, weggeworfene Gewehre, Bajonette und Tornister säumen Straßen und Feldwege. Endlose Gefangenenkolonnen der Unionsarmee marschieren gesenkten Kopfes Richtung Richmond, der Hauptstadt der Südstaaten. Nie zuvor hat der Süden einen vollständigeren Sieg erfochten. Mit nur 60.000 Mann hat General Robert E. Lee, der Oberbefehlshaber der Nord-Virginia-Armee, die doppelt so starke Potomac-Armee unter Generalmajor „Fighting Joe“ Hooker bezwungen.

In Richmond herrscht Optimismus. Lee sieht für den Süden jetzt endlich die Chance, die Offensive zu ergreifen. Er will die Hauptarmee des Nordens durch einen Vorstoß nach Pennsylvania aus ihrer sicheren Stellung hinter dem Rappahannock River weglocken und fernab ihrer Nachschubwege schlagen. Die Operation findet Jefferson Davis’ Zustimmung. Der Präsident der Konföderation hofft, mit einem militärischen Triumph den Kriegswillen des Nordens zu brechen und die Union so an den Verhandlungstisch zu zwingen. Es ist ein kühner Plan. Lees Armee besteht aus drei Armeekorps. Ihre Gesamtstärke beträgt 72.000 Mann. Im Gegensatz dazu zählt die Potomac-Armee sieben Korps mit 19 Divisionen, insgesamt 95.000 Soldaten. Auf dem Papier ist der Norden überlegen. Aber Lee gibt sich siegessicher: „Es gab noch nie zuvor solche Männer in einer Armee. Unter der richtigen Führung werden sie überall hin marschieren und alles tun.“   

Anfang Juni beginnt Lees Offensive. Ohne daß Hooker es bemerkt, verläßt die Nord-Virginia-Armee ihr Lager am Rappahannock. Fast ungehindert stoßen die Konföderierten bis Ende Juni tief nach Pennsylvania hinein, wobei die Kavallerie Lees Marschkolonnen sichert. Die Taktik geht auf. Als Hooker seine Kavallerie zu einer Aufklärungsmission gegen die Rebellen entsendet, kann der Südstaatengeneral Jeb Stuart sie mit seiner Reiterei bei Brandy Station stoppen. Das Reitergefecht bringt Hooker jedoch eine wichtige Erkenntnis. Er weiß nun, daß Lees Armee tief in Pennsylvania steht. Am 25. Juni manövriert er sein Heer zwischen Washington und Lees Virginia-Armee, die sich bereits Gettysburg nähert. Gettysburg zählt zu diesem Zeitpunkt 1.500 Einwohner und ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Hier kreuzen sich mehrere Straßen. Nun ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis es zur Schlacht kommt. Aber Lincoln traut Hooker keinen Sieg über Lee mehr zu. Er ersetzt ihn durch General George Gordon Meade, der sich in den letzten Kämpfen erst als Korpskommandeur bewährt hat. Lincolns Auswahl ist gewagt. Meade gilt als schwieriger Charakter und ist in der Potomac-Armee wegen seiner Wutausbrüche verschrien. Seine Soldaten nennen ihn hinter vorgehaltener Hand „die alte glotzäugige Schnappschildkröte“. Doch unter seinem Kommando bekommt die Nordstaatenarmee neuen Mut. Meade faßt den Entschluß, Lee entgegenzumarschieren. Damit sind die Würfel gefallen. 

Meades Feuerüberfall seiner Artillerie entscheidet die Schlacht

Als Meades Kavallerie Gettysburg und die angrenzenden Anhöhen besetzt, wird sie kurz darauf von Lees Vorausabteilungen angegriffen. Was zuerst wie ein Scharmützel beginnt, entwickelt sich im Laufe des Tages zur Schlacht. Nach und nach werfen beide Armeen ihre Einheiten nach Gettysburg, das von den Rebellen nach harten Kämpfen genommen wird. Trotz dieses Anfangserfolgs gibt sich der Norden am Ende des ersten Tages nicht geschlagen. Meades Stellung bei Gettysburg ist vorteilhaft. Seine Armee befindet sich auf einer langen, mit Wäldern und bizarren Felsformationen durchzogenen Hügelkette, deren Zentrum der Cemetary Ridge beim Friedhof von Gettysburg ist. Meade erkennt sofort den taktischen Vorteil der Stellung und bezieht eine starke Defensivposition. Am zweiten Tag der Schlacht rennen Lees Armeekorps von allen Seiten gegen die Armee des Nordens an. Die Angriffe der Rebellenarmee haben keinen Erfolg. Sie sind zeitlich schlecht aufeinander abgestimmt, und ersticken in Blut. Meade kann örtliche Einbrüche immer wieder durch das Entsenden von Verstärkungen abriegeln. Als der Tag endet, hat der Süden kaum nennenswerte Vorteile errungen. 

Trotzdem verliert Lee nicht die Siegeszuversicht. Er glaubt die Nordstaatenarmee am Ende ihrer Kräfte und wähnt ihr Zentrum geschwächt. Als die Kanonen der Union am dritten Gefechtstag plötzlich verstummen, vermutet Lee Munitionsmangel als Ursache. Entschlossen gibt er Generalleutnant James Longstreet den Befehl, mit der Division Pickett das feindliche Zentrum am Cemetary Ridge zu zertrümmern. Wie auf dem Exerzierplatz setzen sich die Bataillone Picketts in Bewegung. Mustergültig formieren sich entlang einer Meile 12.000 Mann zu Sturmkolonnen. Sie müssen nur im Sturmlauf ein riesiges Weizenfeld überqueren und die feindliche Stellung durchbrechen, dann scheint die Schlacht gewonnen. Aber Lee hat seine Rechnung ohne Meade gemacht. Dieser hat seiner Artillerie den Befehl gegeben, das Feuer einzustellen, um so Lee zum Angriff zu provozieren. Zusätzlich lauert hinter den Steinwällen der umgebenden Hügel Little Round Top und Cemetary Hill Meades Infanterie im Hinterhalt, um Picketts Männer von der Flanke unter Feuer zu nehmen. Eiskalt stellt sich die „alte glotzäugige Schnappschildkröte“ mit ihrer Streitmacht tot. Geduldig lockt Meade Pickett in die Falle, bis seine Division im Feuerbereich ist. Dann erfolgt der Feuerbefehl. Von einem Moment auf den anderen brüllen die Kanonen des Nordens auf. Todbringende Kartätschen zerfetzen Picketts Angriffsreihen, während die Yankee-Infanterie zusätzlich die Angreifer von allen Seiten zusammenschießt. In wenigen Minuten wird Picketts Division vernichtet. Das ist die Entscheidung. Der Aderlaß ist für das Rebellenheer zu groß. Schweren Herzens entschließt sich Lee dazu, die Schlacht abzubrechen. Niedergeschlagen zieht er sich mit den Trümmern seiner Armee nach Virginia zurück. In nur drei Tagen hat der Süden 28.000 Mann durch Tod, Verwundung oder Gefangenschaft verloren. Die Union beklagt 23.000 Mann Verluste. 

Meade hat für die Union den ersten großen Sieg auf dem östlichen Kriegsschauplatz erfochten und den einzigen wirklich bedrohlichen Angriff des Südens auf die Union abgewehrt. Zum ersten Mal sind die Konföderierten demoralisiert, zumal General Ulysses Grant nur einen Tag später Vicksburg am Mississippi nimmt. Nun muß Meade nur noch die Früchte seines Sieges ernten. Doch der Sieger von Gettysburg versagt. Statt die geschlagene Virginia-Armee energisch zu verfolgen und noch vor der Überquerung des Rappahannock zu vernichten, bleibt Meade in Gettysburg. Seine Untätigkeit verlängert den Krieg um fast zwei Jahre, wie Lincoln später bitter bemerkt: „Wir brauchten nur die Hand auszustrecken und sie wären unser gewesen.“ Meade sieht seinen Fehler ein und bittet um seine Entlassung. Lincoln lehnt ab. Meade bleibt noch bis zur Kapitulation des Südens 1865 Oberbefehlshaber der Potomac-Armee und bewährt sich noch in vielen Schlachten gegen die Konföderation.