© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/23 / 07. Juli 2023

„Nur einen kleinen Haken schlagen“
Das Unternehmen „Zitadelle“: Die letzte deutsche Großoffensive in Rußland 1943
Dag Krienen

Am 18. Februar 1943 bemerkte Hitler, daß er „in diesem Jahr keine größeren Operationen machen“, sondern „nur kleine Haken schlagen“ könne. Damit gestand der deutsche Diktator ein, daß ein weiterer Versuch, durch weitreichende operative Vorstöße wie im Sommer 1942 die Sowjetunion als ernstzunehmenden militärischen Gegner auszuschalten, nicht mehr möglich war. Das Deutsche Reich befand sich nach Stalingrad endgültig in der strategischen Defensive. 

Die schweren Niederlagen in der Sowjetunion und in Nordafrika hatten zudem gezeigt, daß Deutschland im personellen und materiellen Rüstungswettlauf nicht mehr mit der Sowjetunion und den westlichen Alliierten mithalten konnte. Dies galt selbst im Vergleich allein mit dem sowjetischen Gegner. Im Frühjahr 1943 schätzte die deutsche Aufklärung die Leistungsfähigkeit der Rüstungsindustrie der Sowjetunion – anders als im Vorjahr – relativ genau ein. So waren bei einer durchschnittlichen eigenen Monatsproduktion von etwa 400 Panzern und 250 Sturmgeschützen monatlich 1.500 und mehr sowjetische Panzer frisch aus den Fabriken zu erwarten.

Die Deutschen konnten nur noch hoffen, den Gegnern immer wieder schwere Niederlagen und große Verluste zuzufügen, um deren Willen zur Fortsetzung des Krieges zu untergraben. So schlug Generalfeldmarschall Erich von Manstein, Befehlshaber der Heeresgruppe Süd vor, die zu erwartende große sowjetische Sommeroffensive erneut mit einem „Schlag aus der Nachhand“ zu kontern (JF 10/23), das heißt die Angreifer zunächst tief in die Ukraine hinein vordringen zu lassen, um sie dann von den Flanken her zu packen und zu vernichten. Doch drohte dabei selbst im Erfolgsfall der zumindest vorübergehende Verlust Charkows und des Donbass. Hitler lehnte dieses Risiko ab.

Bei Kursk kämpften über 7.000 deutsche und sowjetische Panzer

Die Alternative war ein „Schlagen aus der Vorhand“, um die sowjetischen Truppen vor ihrer Sommeroffensive zu dezimieren. Dafür bot sich der „Kursker Bogen“ an, eine weit in die deutschen Linien hineinreichende Fronteinbuchtung zwischen Orel im Norden und Belgorod im Süden. Dort sollten durch eine Zangenbewegung starke Feindkräfte eingekesselt und vernichtet sowie nebenher die Länge der deutschen Front um etwa 240 Kilometer verkürzt werden.

Auch Manstein stimmte der Idee zu und drängte auf eine schnelle Realisierung. Das Oberkommando des Heeres erließ am 13. März und 15. April 1943 zwei Befehle zur Durchführung dieser sogenannten „Operation Zitadelle“, für die ursprünglich der 3. Mai als Beginn vorgesehen war. Eine Weisung Hitlers vom 29. April verschob diesen Zeitpunkt nicht nur wegen der Frühjahrs-Schlammperiode, der Rasputiza, sondern auch, um die Ausstattung der deutschen Verbände mit den neuesten Panzertypen Tiger und Panther zu verbessern. Letztere konnten jedoch erst Ende Juni der Front zur Verfügung gestellt werden.  

Das sowjetische Oberkommando, das die deutschen Absichten frühzeitig erkannt hatte, ließ im Kursker Bogen ein tiefgestaffeltes Verteidigungssystem mit unzähligen Minenfeldern, Bunkern und Panzerhindernissen errichten und massierte dort große Mengen an Soldaten, Panzern und Artillerie. Der deutsche Angriff sollte nicht nur abgewehrt, sondern die hier konzentrierten schlagkräftigsten Verbände des deutschen Ostheeres soweit verschlissen werden, daß sie zur Abwehr der später geplanten sowjetischen Sommeroffensiven nicht mehr fähig sein würden.

Aufgrund des massiven beidseitigen Aufmarsches wurde aus dem „kleinen Haken“ die vermutlich größte Schlacht der Weltgeschichte. Auf deutscher Seite marschierten rund 780.000 Soldaten, 2.500 einsatzbereite Panzer und Sturmgeschütze und 1.400 Flugzeuge auf; bei den Sowjets waren es 1,9 Millionen Soldaten, über 5.000 Panzer und 3.600 Flugzeuge. Die Wehrmacht mußte einen „Angriff gegen eine Lawine“, so der Militärhistoriker Karl-Heinz Frieser, und ein umfassendes System von Abwehrstellungen führen. Die Mehrzahl der deutschen Generäle, darunter auch Manstein hielten dennoch einen erfolgreichen Angriff im Vertrauen auf die Überlegenheit der eigenen Ausbildung und taktischen Gefechtsführung sowie die neuen deutschen Panzertypen VI (Tiger) und V (Panther) dennoch für möglich. Indes konnten nur 133 Tiger bereitgestellt werden, während die fabrikneuen 200 Panther erst kurz vor Angriffsbeginn eintrafen. Der Panther, der sich später als der beste mittlere Kampfpanzer des Zweiten Weltkriegs bewähren sollte, wurde zudem bei Kursk technisch noch unausgereift ins Gefecht geworfen, so daß stets nur eine geringe Anzahl tatsächlich gefechtsbereit war. Im Gefecht mit dem sowjetischen T-34 erwiesen sich aber die neuen deutschen Panzer als weit überlegen. 

Das „Unternehmen Zitadelle“ begann schließlich am 5. Juli 1943. Von Norden griff die zur Heeresgruppe Mitte gehörende, aus 22 Divisionen, davon 8 Panzer- und Panzergrenadierdivisionen bestehende 9. Armee unter Generaloberst Walter Model an. Von Süden stießen unter dem Kommando von Mansteins Heeresgruppe Süd die 4. Panzerarmee (Generaloberst Hermann Hoth) und die Armeeabteilung „Kempf“ (General Werner Kempf) mit 19 Divisionen, davon 9 Panzer- und Panzergrenadier-Divisionen, auf Kursk vor. Der Südflügel war mit gut 60 Prozent aller Panzer und Sturmgeschütze, darunter alle Panther und 102 von 133 Tigern, deutlich besser ausgerüstet als der Nordflügel.

Der deutsche Angriff gegen den Frontbogen geriet zu einem zähen, verlustreichen Durchfressen durch feindliche Stellungen und Minenfelder. Die 9. Armee im Norden machte nur geringe Fortschritte, zumal Model einen Teil seiner Panzerverbände – aus guten Gründen – in Reserve hielt. Mansteins und Hoths Stoß aus dem Süden war erfolgreicher. Mitte Juli standen die Deutschen dort auf halbem Weg nach Kursk sogar kurz vor dem Durchbruch in freies Gelände. 

Doch am 13. Juli erließ Hitler die Weisung, die Schlacht abzubrechen. Die Gründe dafür sind bis heute umstritten. Meist wird die westalliierte Landung auf Sizilien dafür verantwortlich gemacht. Unmittelbar wirksam waren allerdings die am 12. Juli begonnenen sowjetischen Angriffe gegen den Rücken der 9. Armee im Raum Orel verantwortlich, die Model mit seinen Panzerreserven nicht vollständig eindämmen konnte. Ein weiteres Vorrücken des Nordflügels war nun ausgeschlossen. Am erfolgreicheren Südflügel wollte Manstein indes die Offensive in kleiner Form als „Unternehmen Roland“ zur Einkesselung zumindest der im Süden von Kursk stehenden Feinde noch fortsetzen. Doch am 17. Juli erhielt er von Hitler den Befehl, seine Angriffsspitze, das II. SS-Panzerkorps, zur Verlegung aus der Front herauszuziehen.

Mitte Juli 1943 begannen die Sowjets eine Reihe von großen Offensiven im und auch außerhalb des Kursker Raumes. Die Lawine kam ins Rollen. Bei den beiden großen Folgeoperationen der „Kursker Verteidigungsoperation“, die in der russischen Tradition ebenfalls zur Kursker Gesamtoperation gezählt werden, „Kutusow“ vom 12. Juli bis 18. Augst und „Rumjanzew“ vom 3. bis 23. August, setzte die Rote Armee jeweils 1,2 bis 1,3 Millionen Soldaten und 2.500 Panzer ein, denen die abgekämpften und durch Truppenverlegungen geschwächten Deutschen insgesamt nur noch 600.000 Mann und 900 bis 1.000 Panzer und Sturmgeschütze entgegenstellen konnten. „Kutusow“ nahm schließlich den vorspringenden Frontbogen von Orel ein, „Rumjanzew“ gelang die Rückeroberung von Belgorod und – diesmal endgültig – Charkow. 

Selbst ein deutscher Sieg hätte keine Kriegswende bedeutet

Die Rote Armee erlitt allerdings gigantische Verluste. Bei der „Operation Zitadelle“ vom 5. bis zum 16. Juli verlor sie nach eigenen Angaben knapp 180.000 Mann und 1.600 Panzer, nach Angaben von Historikern aber bis zu 300.000 Mann und 2.000 Panzer. Die deutschen Verluste betrugen rund 54.000 Mann, davon 11.000 Tote und Vermißte, sowie 250 bis 350 Panzer. In allen drei Schlachten bei Kursk inklusive „Zitadelle“ bis zum 23. August verlor die Rote Armee nach eigenen Angaben 863.000 Soldaten, real aber wohl 1,1 bis 1,6 Millionen Mann, während die deutschen Verluste 170.000 bis 200.000 Mann betrugen, davon knapp 50.000 Tote und Vermißte. Die Sowjets büßten zudem gut 7.000 Panzer ein, während die Deutschen etwa 1.200 Panzer und Sturmgeschütze abschreiben mußten, auch weil bei den Rückzügen  ausgefallene Fahrzeuge oft nicht mehr geborgen und repariert werden konnten. 

Vergleicht man nur die Verlustzahlen, stellte „Kursk“ einen deutschen „Erfolg“ dar. Tatsächlich waren es aber sowjetische Siege, weil Stalin ohne Rücksicht auf Verluste den Feind mit schierer Übermacht einfach überwältigen konnte. Selbst ein Erfolg der „Operation Zitadelle“ oder „Roland“ hätten an der grundlegenden Situation nichts geändert, sondern nur ein wenig Zeit gewonnen gegen einen Gegner, dem der Verlust von einer Millionen und mehr Mann und Tausenden von Panzern nichts ausmachte.

„Zitadelle“ war zwar die größte, aber keine Entscheidungsschlacht des Zweiten Weltkrieges. Die Deutschen hätten selbst durch einen Sieg keine Kriegswende im Osten mehr erzwingen können, was ihnen auch klar war. Für Stalin hingegen stellte der Abwehrerfolg bei Kursk nur einen, wenn auch spektakulären Zwischenschritt bei seinem unaufhaltsamen Stoß nach Mitteleuropa dar. Das einzige, was „Zitadelle“ wirklich bewies, war, daß für Hitler im Osten die Zeit des Schlagens selbst „kleiner Haken“ endgültig abgelaufen war.