Bereits die ersten Sätze von Max Horkheimers und Theodor W. Adornos gemeinsam verfaßtem Grundlagenwerk „Dialektik der Aufklärung“ machen deutlich, daß kritisches Denken auch vor dem sogenannten „Fortschritt“ nicht haltmacht: „Seit je hat die Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils. Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Der Verstand, der den Aberglauben besiegt, soll über die entzauberte Natur gebieten. Das Wissen, das Macht ist, kennt keine Schranken, weder in der Versklavung der Kreatur noch in der Willfährigkeit gegen die Herren der Welt.“
Horkheimers und Adornos Sammlung von Essays gilt nicht nur als wichtigster Text der „Kritischen Theorie“ und klassisches Werk der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Das kritische Denken verlangt auch die Parteinahme für das Zurückgebliebene, „anstatt den Lauf zur verwalteten Welt zu beschleunigen“. Es ist dies der Ausgangspunkt der bekanntesten Protagonisten der „Frankfurter Schule“: die Selbstzerstörung der Aufklärung, hinter deren ideologischem Vorhang das reale Unheil sich zusammenbraut und die dahinterstehende Philosophie die Macht des Bestehenden verstärkt. Denn wenn Aufklärung in Mythologie zurückschlägt, bedeutet dies nur, daß sie sich im Mythos als Unmöglichkeit wiederkennt.
Die Geschichte der „Frankfurter Schule“ begann 1923, als auf Initiative des jüdischen Unternehmersohns Felix Weil die Gründung des „Instituts für Sozialforschung“ an der Frankfurter Universität erfolgte. Ab 1930 versuchte Max Horkheimer – der als Sohn einer konservativ-jüdischen Fabrikantenfamilie am 14. Februar 1895 in Stuttgart geboren wurde und als Untersekundaner das Gymnasium verließ, um als Lehrling in die väterliche Fabrik einzutreten –, im Anklang an die „Wiener Schule“, vermittels einer Metaphysik-Kritik und der Durchdringung von Sozialphilosophie die Krise des Marxismus zu überwinden. Weil sah im Institut eine „Heimstätte für den wissenschaftlichen Sozialismus“, doch für Horkheimer, der 1919 mit seinem Freund und Kollegen Friedrich Pollock als Externer in wenigen Monaten das Abitur nachholte und noch im gleichen Jahr in Frankfurt und München seine Studien der Psychologie, Philosophie und Nationalökonomie begann, stand von Anfang an fest, daß im Institut die Dimension der Konfliktualität fehlte und die negativen Konnotionen ausgespart wurden.
Aufklärung und Gegenaufklärung erfolgen nach identischen Mustern
Vor diesem Hintergrund erkannte er, daß Aufklärung und Gegenaufklärung nach identischen Mustern vorgehen und jeweils zur Erscheinungsform ihres immanenten Gegenteils werden können. Für den Gelehrten war klar, daß das Umschlagen von Fortschritt in Reaktion, von Vernunft in Irrationalität und von Demokratie in Diktatur die gesamte Modernisierungsgeschichte begleitete. So sah er in dem am Firmament aufscheinenden Nationalsozialismus die negative Identität von Fortschritt und Reaktion und zugleich die innere Dynamik der Wertvergesellschaftung.
Als Ziel der Sozialphilosophie galt ihm die „philosophische Deutung des Schicksals der Menschen, insofern sie nicht bloß Individuen, sondern Glieder der Gemeinschaft sind“. Schwangen in dieser Aussage bereits Ansätze zu Horkheimers späterer Konversion zum Konservativismus mit? Während Adorno noch 1934 das nationalsozialistische Chorlied pries, in den Gedichten des Reichsjugendführers Baldur von Schirach einen „ungewöhnlichen Gestaltungswillen“ erkannte und gleichzeitig in der konservativen Europäischen Rundschau gegen „Negerjazz“ polemisierte, rückte nach der Schließung des Instituts 1933 durch die Nationalsozialisten der Gedanke des Exils näher. So erfolgte 1934 in New York die Gründung des „International Institute of Social Research“.
Ende der dreißiger Jahre begannen Horkheimer und Adorno ihre Zusammenarbeit an dem „Dialektik-Projekt“, aus dem 1947 die in Amsterdam veröffentlichte „Dialektik der Aufklärung“ hervorging. Horkheimer hatte schon zehn Jahre zuvor seine grundsätzliche Kritik am Positivismus unter dem Titel „Traditionelle und Kritische Theorie“ publiziert und in die „Dialektik der Aufklärung“ einfließen lassen. 1947 erschien auch ein weiteres grundlegendes Werk aus seiner Feder: „Kritik der instrumentellen Vernunft“. Darin wies er Adornos radikale Kritik am Mensch-Tier-Verhältnis und der Naturbeherrschung als „Objekt totaler Ausbeutung“ zurück und suchte Ludwig Klages Verteidigung der Natur mit Schopenhauers metaphysischem Pessimismus zu vereinbaren.
Im Oktober 1946 hatten die Stadt Frankfurt und die Universität um eine Rückkehr des Instituts an seine alte Wirkungsstätte geworben. Horkheimer kehrte 1949 als erster zurück. Mitte 1950 begann das Institut wieder mit seiner Forschungsarbeit, wenig später wurde Max Horkheimer zum Rektor der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität ernannt. Zum Begriff der Verantwortung schrieb er 1954: „Im Widerspruch zu dem, was an vielen Stellen der Welt heute geübt wird, scheint mir die Vaterlandsliebe des Akademikers vor allem darin sich zu erweisen, daß er dem eigenen Volk die Wahrheit sagt, auch wenn er damit allein steht.“
In einem Brief an Herbert Marcuse beklagte Horkheimer, „daß wir in metaphysischen Dingen dem Grundsätzlichen aus dem Wege gehen“ und spielte damit auf die studentischen Proteste gegen den Vietnamkrieg an, die Mitte der 1960er Jahre begannen. Gegenüber Friedrich Pollock befürchtete er bei einem Rückzug der US-Armee „nicht bloß ein fürchterliches Blutbad“, und daß ganz Asien chinesisch werden würde. Er bestätigte zwar das „Grauen des Krieges und die unglücklichen Vietnamesen“, tadelte jedoch die Demonstranten mit ungewöhnlicher Schärfe: „Was sie nicht sehen, ist die Hölle einer chinesischen Weltherrschaft!“ Er warf Marcuse eine „rabiate Haltung, die auch den Gedanken nicht scheut, man müsse alles Dissentierende verbieten“ vor und dem SDS eine „krude anti-amerikanische Praxis“. In einem weiteren Brief an Marcuse erklärte er, daß ihm der Terror zuwider sei, ob von links oder von rechts.
Für die radikale Linke wurde Horkheimer zur Unperson
Horkheimer sah in Marcuse „den Prototyp des radikalen Intellektuellen, der mit dem Osten sympathisiert und damit die schlimmste Art der Barbarei propagiert“. Die kommunistischen Zucht-haussysteme bezeichnet er als „viel schlimmer als die teilweise grobe Verfälschung der demokratischen Ordnung im Westen, während Marcuse in Amerika heute den historischen Erben des Faschismus sehe: „Eine herrlich einfache Welt wird da vorausgesetzt ohne den leisesten Hinweis auf die Verkettung von Schuld und Wohltat, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Freiheit und Zwang. Man hat zwar Dialektik studiert, ja, sogar Bücher darüber geschrieben, um jedoch für Intellektualität noch Reklame zu machen, ist nichts trivial genug.“ Im übrigen habe Habermas recht, wenn er den blinden Aktionismus der radikalen Berliner und Frankfurter SDS-Studenten als „linken Faschismus“ bezeichne: „Die Führer der Bewegung sind in der Wahl ihrer Mittel genauso bedenkenlos wie die Herren der äußersten Rechten.“ Dutschke führe sich selbst ad absurdum, wenn er die Demokratie als bloßen Schein reduziere und ein Rätesystem fordere, das bereits in den 1920er Jahren zum Bürgerkrieg geführt habe und gescheitert sei.
Der Faden zwischen Horkheimer und dem SDS war nun endgültig zerschnitten. Die lang ersehnte Entfaltung der „Schönen neuen Welt“ und des von den Linksradikalen imaginierten „neuen Menschen“, fand spätestens ein Ende, als sich Horkheimer bei einem deutsch-amerikanischen Freundschaftsfest im Mai 1967 auf dem Frankfurter Römer demonstrativ mit einem US-General zeigte und am Abend im Amerika-Haus einen Vortrag hielt. Der SDS konterte mit einem „Offenen Brief“, in dem er dem emeritierten Sozialphilosophen „in die Apologie des Faschismus und Imperialismus umgeschlagene Resignation“ und „mit dem Mantel der Privatheit verkleidete Unwissenschaftlichkeit“ vorwarf. Dessen Erwiderung, radikal sein heiße heute konservativ sein, machte den neben Adorno bedeutendsten Denker der „Kritischen Theorie“ für die radikale Linke endgültig zur Unperson.
Daß Horkheimer die Dunkelmänner der Aufklärung und die falsche Geschichtsmetaphysik der Moderne auf radikale Weise entlarvt hat, indem er den schändlichen Kult der Werbung, die perfiden Manipulationen der Kulturindustrie und die Dialektik der Aufklärung in einer Schärfe kritisierte, die bis heute ihresgleichen sucht, spielte für die „Kinder von Marx und Coca Cola“ keine Rolle mehr. Der Linksradikalismus hatte sich – von wenigen Ausnahmen abgesehen – von den Vätern der Negativen Ontologie losgesagt, um sich von Herbert Marcuses „Repressiver Toleranz“ inspirieren zu lassen und den blutigen Traum von Stadtguerilla und Terror nicht nur zu träumen, sondern auch zu realisieren.
Am 7. Juli 1973 ist Max Horkheimer in Nürnberg im Alter von 78 Jahren verstorben. Den Verfall der modernen Subjektivität in ihren lächerlichen bis schauerlichen sozialen, kulturellen, politischen und ökonomischen Varianten hat er ebenso vorausgesehen wie die Totalisierung und allumfassende Manipulationsfähigkeit der Kulturindustrie, der Massenmedien und die Mutation der Linken zu fanatischen Verfolgern politisch Andersdenkender. Allein ihre Degeneration zu globalistischen Aufklärungsideologen konnte er damals noch nicht ahnen.