Selbst im hohen Alter kann der 1932 geborene Schriftsteller, Filmmacher und „unermüdliche Dechiffrierer deutscher Mythen“ (Karsten Witte) Alexander Kluge nicht aus seiner Haut. Der neben Jürgen Habermas und Oskar Negt letzte Überlebende unter den einflußreichsten Zöglingen der „Frankfurter Schule“ Max Horkheimers und Theodor W. Adornos will unverdrossen das ewig „falsche Bewußtsein“ der Deutschen ausleuchten, um mit immer neuen Aufklärungen Gegenentwürfe zum „schlechten Bestehenden“ zu liefern. Daher dient auch seine lange währende Beschäftigung mit den Kulturlandschaften im östlichen Mitteleuropa stets solchen volkspädagogischen Zwecken. Für Kluge bilden die Provinzen des einstigen Habsburger Vielvölker-Imperiums, mit einem Schwerpunkt in Galizien, ein rückwärtsgewandtes „vornationales“ Ideal. „Wenn heute von der AfD und Neonationalisten aller Art das ‘Europa der Vaterländer’ wieder reklamiert wird als ein Naturzustand, den es wiederherzustellen gelte gegen Überfremdung, dann kann ich nur sagen: Dieser angebliche Naturzustand des Europas der Nationen ist auch nur 150, 200 Jahre alt und in Mitteleuropa noch viel jünger.“ Gerade Lembergs vollständig erhaltenes Stadtbild lasse noch etwas von der multikulturellen Atmosphäre spüren, die seit 1914 „nationalen Flurbereinigungen“ zum Opfer gefallen ist. Nationalismus sei also, das lehre die Topographie Galiziens, nicht allein „böse“, sondern auch „künstlich“, denn es bedürfe großer Vorstellungskraft, „um sich zugehörig zu fühlen zu einer Nation“, während Kluge das von ihm imaginierte Dasein im vornationalen Europa für „natürlich“ hält (Lettre International, 141/2023).