Im Juni 1975, zum 100. Geburtstag Thomas Manns, verschickte Hanjo Kesting, Kulturredakteur des Norddeutschen Rundfunks, einen kurzen Fragebogen an deutsche Gegenwartsliteraten, um zu ermitteln, welche Bedeutung sie dem 1955 verstorbenen Nobelpreisträger für ihr eigenes Schaffen noch zubilligten. Die siebzig Antworten, die er erhielt, markieren einen im Rückblick nur mit dem Kulturbruch von 1968 zu erklärenden Tiefpunkt im öffentlichen Ansehen des „Buddenbrooks“-Autors.
Die Quintessenz der nahezu einhellig abschätzigen Urteile der Martin Walser, Peter Rühmkorf & Co. fand Kesting im barschen Bescheid des Joyce-Verehrers Arno Schmidt: Im Handwerklichen sei Thomas Mann nicht über Gustav Freytag, also nicht über den bürgerlichen Realismus des 19. Jahrhunderts hinaus gelangt. Nie habe er sprachlich etwas riskiert, nie einen Versuch unternommen, „durch neuartige Anordnung der Prosaelemente eine bessere, eindringlichere Abbildung der Welt zu erreichen“. Um die Verbannung des „großen Ungeliebten“ aus dem Kanon zu besiegeln, schob der vom „progressiven“ Furor gepackte Kesting im Spiegel „Zehn polemische Thesen über einen Klassiker“ nach, die den Romancier als „Statthalter der längst verfaulten bürgerlichen Kulturtradition“ attackierten und den Pamphletisten vor allem wegen seiner „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (1918) fest in der „Vorgeschichte des deutschen Faschismus“ verankerten.
Kesting hat diese Verdikte bald korrigiert, als er sich hingerissen zeigte von der Lektüre der „süchtig machenden“ (Fritz J. Raddatz), sukzessive seit 1977 veröffentlichten zehnbändigen Edition der Tagebücher Thomas Manns. Im Vorwort seiner Biographie über den „Zauberer“ schildert der 80jährige Unruheständler selbstkritisch diese generationstypische Verirrung. Längst gehöre er zu jenen Verehrern des Meisters, die er mit seinen kulturrevolutionären „Thesen“ einst provozierte. Thomas Mann gilt ihm heute, „trotz Kafka, Musil, Döblin und Brecht, als der größte deutschsprachige Schriftsteller aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“. Und die „Betrachtungen eines Unpolitischen“ zählt er jetzt zu den Texten, die mit ihrer „intellektuellen Schärfe und sprachlichen Höhenluft zum Besten gehören, das er geschrieben hat“.
Angesichts dieser 180-Grad-Wende überrascht es nicht, wenn Kesting nunmehr das von Thomas Mann repräsentierte deutsche Bildungsbürgertum rehabilitiert, weil weitaus Schlechteres an seine Stelle getreten sei, „die Wegwerfgesellschaft, die alles den Maximen der Käuflichkeit und Profitabilität unterwirft“. Um deren Vernutzung des Planeten in die Schranken zu weisen, redeten alle vom Klimaschutz. Nötiger wäre heute wohl Kulturschutz. Doch lieber applaudiere man der Ersetzung von Bildung durch Unterhaltung und gebe sich „weltoffen und fortschrittlich im Zeichen eines multikulturellen Mischmaschs, der alles Spezifische zerstört und das eigene Herkommen undeutlich macht“.
Wer nach solchen kämpferischen Tönen erwartet, die Biographie mobilisiere das Œuvre ihres Helden für die Kulturkriege der Gegenwart, sieht sich getäuscht. Obwohl auch diese Arbeit dem seit der Wiedervereinigung dominierenden Trend Tribut zollt, das Werk des politischen Publizisten, Kulturkritikers und Zeitdiagnostikers nicht von dem des literarischen Künstlers Thomas Mann zu trennen, sondern es getreu seiner Devise, allem Geistigen wohne das Politische inne, als Einheit aufzufassen. Ihr Verfasser habe mit den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ aufgehört, unpolitisch zu sein, weil es seit der alles in ihren Strudel reißenden „Urkatastrophe“ des Ersten Weltkrieges unmöglich geworden sei, „etwas für den Menschen Wesentliches auszusagen, ohne in irgendeinem Betracht ‘politisch’ zu werden“. So formulierte es schon 1945 Erich von Kahler, der Kulturphilosoph und Berater in politicis, der im US-Exil zusammen mit dem Freund den „deutschen Charakter“ zu ergründen und daraus den Weg in die nationalsozialistische Barbarei abzuleiten versuchte. Es gebe daher, belehrt uns die Forschung, keinen deutschen Schriftsteller seines Ranges, selbst Bertolt Brecht nicht, dessen Gesamtwerk mit annähernd gleicher Intensität die Epoche der Weltkriege kommentiere und als einzigartiges weltliterarisches Zeugnis aus dem Zeitalter der Extreme zu lesen sei.
Kesting trägt dieser fundamentalen Einsicht in Manns Synthese von Erzählkunst und Publizistik entschieden zu wenig Rechnung. Auf den „Werkfahrten“, auf denen er die Romane „Buddenbrooks“, „Zauberberg“, „Joseph und seine Brüder“, „Lotte in Weimar“, die Altersprosa „Der Erwählte“ und „Die Betrogene“, so knapp wie kundig interpretiert, schöpft er deren politisch-ideologischen Gehalt kaum ansatzweise aus. Von den zeithistorischen Hintergründen der „Joseph“-Tetralogie findet gerade einmal die Wirtschaftspolitik Franklin D. Roosevelts als „New Deal am Nil“ Beachtung. Daß der „gelassene Weltbürger“ Goethe in „Lotte in Weimar“ dem emigrierten Autor 1939 als (fragwürdiger) Kronzeuge gegen den deutschen Nationalismus dient, wird nur skizziert. Und die politische Dimension des „Erwählten“ (1951), Manns im Vorfeld der „Montan-Union“ ins „übernationale“ Mittelalter projizierte Vision eines europäischen Deutschland, bleibt gleich ganz im Dunkeln. Da Kesting auch in den gesonderten Kapiteln über „Thomas Mann und die Musik“ sowie über den eigentlichen „Lebens- und Schlüsselroman“ der Tagebücher das so zentrale zeitgeschichtlich-politische Thema nicht heller ausleuchtet, taugt seine kompakte Biographie allein als Appetitanreger, freilich kulturjournalistisch professionell zubereitet.
Wem damit nicht gedient ist, wage sich an Dieter Borchmeyers Monumentalbiographie, deren enzyklopädisches Format Thomas Manns Wappenspruch gehorcht, wahrhaft unterhaltsam sei nur das Ausführliche. Der spröde Untertitel „Werk und Zeit“ ist als Programm aufzufassen. Der emeritierte Heidelberger Literaturhistoriker des Jahrgangs 1941, neben den in die USA ausgewanderten und dort akademisch reüssierten Kollegen Klaus W. Jonas (1920–2016), Herbert Lehnert (1925) und Hans Rudolf Vaget (1938) einer der Veteranen der Thomas-Mann-Forschung, buchstabiert den Paradigmenwechsel der Deutungsgeschichte konsequent aus, der die lange in der Germanistik und im Feuilleton gestützte Brandmauer zwischen Literatur und Politik in Manns Gesamtproduktion mittlerweile zum Einsturz gebracht hat. Mit der Folge, daß ein zum Idealtyp des Kosmopoliten verklärter Großschriftsteller märchenhaft aufsteigen konnte zum Präzeptor der „neuen Deutschen“ (Herfried Münkler) in ihrer „weltoffenen“, nach Auflösung im „multikulturellen Mischmasch“ (Kesting) gierenden Berliner Republik. Ein Mißverständnis? Absolut sicher!
Den Höhepunkt dieser kulturpolitischen Beschlagnahme bildete die von der Bundesrepublik für 20 Millionen Euro erworbene, renovierte und 2018 als transatlantische Begegnungsstätte von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eröffnete Villa Manns im kalifornischen Pacific Palisades. Während der Präsidentschaft Donald Trumps erschien die „weiße Villa des Exils“ den Umerzogenen unter der Regenbogenfahne der passende Ort, um „ein Zeichen zu setzen“ und ihren nun von einem angeblichen „Haßprediger“ (so der ihm mehr als kongeniale Steinmeier über Trump) im Weißen Haus in Washington geführten einstigen Lehrmeistern eine Lektion in Sachen wahrer Demokratie zu erteilen. Diese dreiste Instrumentalisierung lud zur Nachahmung ein: Das Literaturhaus München inszenierte den Dichter 2020/21 mit einer auch in Pacific Palisades gezeigten, intellektuell unterirdischen Ausstellung („Democracy will win“) als Vorkämpfer gegen „Nationalismus und Populismus“, der Barack Obama gewählt und „unsere Demokratie in Zeiten globaler Migration“ gegen Kritiker, vornehmlich der letzteren, verteidigt hätte.
Borchmeyer modelliert seit der Wiedervereinigung an dem, nun mit den Schlüsselpassagen seines 1.500seitigen Opus maximum gekrönten, dem herrschenden Zeitgeist angepaßten Bild eines „antifaschistischen“ Schriftstellers, der 1933 als Emigrant seinen Landsleuten auf dem „Weg nach Westen“ geistig vorausgeeilt war. Diese Konstukt wäre aber ohne öffentliches Echo geblieben, wenn Joachim Fest mit seinem spöttischen Doppelporträt über „Die unwissenden Magier“ Heinrich und Thomas Mann (1985) das letzte Wort im Streit über deren politisches Urteilsvermögen behalten hätte. Der erinnerungspolitisch ambitionierte FAZ-Herausgeber stufte beide Brüder als politisch lächerlich inkompetent ein. Sie eigneten sich darum nicht als volkspädagogische Vormünder für die Westdeutschen, weil die ihre Vergangenheit bewältigt und mit dem Aufbau einer stabilen Demokratie die richtigen Schlüsse daraus gezogen hätten.
Tatsächlich, so Borchmeyer unter Verweis auf Freund Vagets Monographie „Thomas Mann der Amerikaner“ (2011), seien Fests Argumente zumindest für Thomas, den „Wanderredner der Demokratie“ und wortmächtigsten Widersacher Adolf Hitlers, „widerlegt, ja zur Makulatur geworden“. Fests Traktat sei das letzte Gefecht der Westdeutschen in ihrem seit 1945 geführten Abwehrkampf gegen den ihnen von Thomas Mann zugemuteten Vorwurf der Kollektivschuld gewesen. Den wiederum für den Berliner politisch-medialen Komplex kein Geringerer als Bundespräsident Horst Köhler in seiner Festansprache zum 50. Todestag Manns akzeptierte, als er dessen Kriegspropaganda („Deutsche Hörer“) zustimmte: Ein Volk, von dem das Unrecht des Völkermords an den Juden ausging, habe nicht straflos davonkommen dürfen. Der alliierte Luftkrieg, der die Städte des Reiches in Schutt und Asche legte und, was bei Köhler mitschwingt, die von Polen und Russen zu verantwortende ethnische Säuberung der preußisch-deutschen Ostprovinzen, sei „selbstverschuldet“. Aus der Verinnerlichung dieser Schuld erwachse die neudeutsche „Grundidentität“ (Ulrich Herbert).
Trotzdem sperrt sich Borchmeyers zu diesem Zweck entworfenes Dichter-Bild an zwei von ihm ständig verdeckten neuralgischen Punkten gegen jede offiziöse, moralisierende Indienstnahme: Erstens verstand sich Thomas Mann, der die US-Unkultur aus Pop und Sport verachtete, und dem das Deutsche eine „sakrale Sprache“ war, unerschütterlich als Bewahrer deutscher Hochkultur, der sie und ihren Träger, das deutsche Volk, nie „multikulturell“ auflösen, sondern als Nachfahre der neuhumanistischen Weimarer Klassiker ins „Weltbürgerliche“ steigern wollte. Und zweitens machen seine geistesgeschichtlich und sozialpsychologisch aufbereiteten Erfahrungen mit der blutigen politischen Romantik des Nationalsozialismus für immer mißtrauisch gegen endzeitlich tönende deutsche „Weltrettungsprojekte“. „Klimaneutralität“ und „Wir haben Platz“ wirken darum aus seiner Perspektive wie Variationen von „Lebensraum im Osten“.
Hanjo Kesting: Thomas Mann. Glanz und Qual, Wallstein Verlag, Göttingen 2023, gebunden, 398 Seiten, 28 Euro
Dieter Borchmeyer: Thomas Mann. Werk und Zeit, Insel Verlag, Berlin 2022, gebunden, 1.552 Seiten, 58 Euro