Eine freudige Überraschung war es, als ich vor einigen Monaten die Einladung der Familie Tolstoi erhielt, mit ihnen nach Lienz in Osttirol zu reisen. Nach meinem Besuch in England im vergangenen Jahr (JF 52/22-1/23 & JF 2/23) sind wir in Kontakt geblieben.
Graf Nikolai Tolstoi, Historiker, Autor und Nachfahre von Leo Tolstoi, hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, die Umstände um die Auslieferung von circa 2,25 Millionen Menschen russischen Ursprungs, die nach dem Zweiten Weltkrieg von den westlichen Alliierten an die Sowjetunion übergeben wurden, was deren sicheren Tod bedeutete, historisch aufzuarbeiten und aufzuklären. Insbesondere die Lienzer Kosakentragödie, die sich im Mai 1945 ereignete, hat ihn einen großen Teil seines Lebens intensiv begleitet.
Als er mir mitteilte, er würde in Lienz sein jüngstes Buch mit neusten Forschungsergebnissen zu den Geschehnissen, „Stalin’s Vengeance“ (Stalins Rache), vorstellen und an der jährlichen Gedenkfeier der Tragödie teilnehmen, beschloß ich, mich gemeinsam mit ihm auf die Spuren der Kosaken zu begeben. Noch heute erinnern sich viele in der kleinen Stadt, die in einem offenen Talkessel unweit der italienischen Grenze zu Südtirol liegt, an die Opfer von damals.
Was war passiert? Die Kosaken waren loyale Unterstützer des Zarenreichs gewesen und kämpften gegen die Bolschewisierung ihrer Heimat. Seit der Russischen Revolution wurden sie durch die sowjetische „Entkosakisierung“ vom System verfolgt, mit dem Ziel sie auszurotten. Sie schlossen sich als Antikommunisten im Zweiten Weltkrieg schlußendlich der deutschen Wehrmacht an. Von den Deutschen wurden sie zur Partisanenbekämpfung gegen Tito auf dem Balkan eingesetzt.
Als sich Anfang 1945 die Kapitulation Deutschlands abzeichnete, war den Kosakenverbänden klar, daß sie von den Siegermächten als NS-Kollaborateure eingestuft werden würden und in der Sowjet-union nichts als der Tod auf sie warten würde. Die Deutschen hatten den Kosaken für ihren Dienst eine neue Heimat in Norditalien versprochen. „Um nicht in Gefangenschaft der Roten Armee oder der Tito-Partisanen zu gelangen, wollten sie nach der Genfer Konvention als britische oder amerikanische Kriegsgefangene behandelt werden“, erklärte mir Graf Tolstoi damals. „Es waren circa 40.000 Kosaken, inklusive Frauen, Kindern und Alten sowie 12.000 Pferden, die Anfang Mai 1945 über den Plöckenpaß von Norditalien nach Lienz und Umgebung flüchteten.“
Mit der Versicherung von britischer Seite, daß sie nicht an die Sowjetunion ausgeliefert werden würden, legten sie ihre Waffen nieder.
Doch es sollte sich alles schnell ändern. In einer Geheimabsprache, über die Tolstoi in seinen Büchern wiederholt berichtet, entschieden die britischen Kommandeure, daß alle Kosaken in das 200 Kilometer weiter östliche und von der Roten Armee besetzte Judenburg zu übergeben seien. Um nicht einen grausamen Tod in den Gulags oder durch sowjetische Waffen zu erfahren, nahmen sich viele Kosaken das Leben.
„Ich erinnere mich noch genau, wie es damals war, obwohl ich erst fünf Jahre alt war. Die britischen Soldaten umzingelten die Kosaken und ich höre noch die verzweifelten Schreie“, erzählt mir Erika Pätzold, die ehrenamtliche Pflegerin des Kosakenfriedhofs im Lienzer Vorort Peggetz während der Gedenkfeier. „Es war so schlimm, eine große Tragödie. Die Frauen sprangen mit ihren Säuglingen auf dem Arm von der Brücke in die Drau. Männer ritten mit Ihren Pferden in die starken Strömungen des Flusses“, berichtet sie weiter. „Sie hatten doch keine Waffen mehr.“
Nikolai Tolstoi erzählt, daß viele während des gewaltsamen Abtransportes aus den Eisenbahnwaggons und Lkws sprangen, mit dem Ziel sich das Genick zu brechen. Einige wenige konnten fliehen.
Frau Pätzold hat die Geschehnisse von damals nie vergessen, und als sie vor einigen Jahren in ihre Geburtsstadt Lienz zurückkehrte, übernahm sie ab 2005 liebevoll die Pflege des Friedhofes, wo in Massengräbern Hunderte Kosaken begraben wurden. Auf eigene Initiative sammelte sie 40.000 Euro Spendengelder für das Österreichische Schwarze Kreuz, das mit der Instandhaltung von Kriegsgräberstätten beauftragt ist, um auf dem Friedhof eine Kapelle zu errichten. Diese wurde 2015 fertiggestellt. „Ich bekam auch Unterstützung von den Kosaken aus Rostow am Don. Sie stellten mir 18 Sänger und Tänzer zur Verfügung, und wir veranstalteten sechs Konzerte in sieben Tagen in Österreich und Italien.“ Die Erlöse wurden ebenfalls für den Bau verwendet.
„Leider werden es immer weniger. Die meisten Zeitzeugen sind verstorben und aufgrund unserer heutigen gesellschaftlichen Strukturen besteht kaum öffentliches Interesse“, erklärt mir Graf Tolstoi auf dem Friedhof nach der Gedenkfeier. Über die Jahre hat er in regelmäßigen Abständen an der Gedenkfeier teilgenommen und dort noch mit vielen überlebenden Zeitzeugen sprechen können. Doch einen Mann möchte er mir unbedingt vorstellen, der gemeinsam mit Frau Pätzold mit allen Kräften die Erinnerung an damals lebendig halten möchte: Georg Kobro, russisch-orthodoxer Erzpriester, Kosakenexperte und pensionierter Universitätsdozent. Er ist der Leiter des privaten Kosakenmuseums in Lienz, das im Mai 2014 gegründet wurde und wo Graf Tolstoi am Nachmittag nach der Gedenkfeier sein Buch präsentiert. Wir kommen schnell ins Gespräch und neugierig frage ich ihn, wie diese sorgfältige und handverlesene Ausstellung in so einem wunderschönen historischen Gebäude in der Lienzer Innenstadt entstanden ist.
„Das Museum soll eine anschauliche Gedenkstätte zur Lienzer Kosakentragödie sein“, erzählt er mir und daß er der Sohn baltisch-russischer Flüchtlinge aus Riga sei, die Ende des Zweiten Weltkrieges über Polen in Österreich strandeten. Er wird 1948 in einem Displaced-Persons-Flüchtlinglager bei Salzburg geboren und begegnet somit schon als Kind der Geschichte von Lienz. „In unseren russisch-orthodoxen Kirchengemeinden waren viele während der Auslieferung geflohene Kosaken mit ihren Familien, die nach den Gottesdiensten ihre ergreifenden Geschichten schilderten und ihre Lieder sangen. Später lebte ich in einem ähnlichen Barackenlager bei München, wo ebenfalls Kosaken über die Tragödie berichteten.“ Er erklärt mir beim späteren Besuch des Museums, daß die russisch-orthodoxe Geistlichkeit aus ganz Europa seit damals regelmäßig Pilgerfahrten zum Kosakenfriedhof nach Lienz veranstaltet. So reiste er immer wieder nach Lienz und machte es sich zur Aufgabe, die kleine russisch-orthodoxe Kosakengemeinde vor dem „Aussterben zu retten“.
„Wir haben 50 Vereinsmitglieder, Interessierte sind willkommen“
„Ab 2000 begann ich Lienz einmal monatlich zu besuchen. Zunächst übernachtete ich im Hotel, dann bat ich Frau Pätzold nach einem geeigneten Raum zum Übernachten und für Versammlungen nach den Gottesdiensten zu suchen. Ich schmückte ihn mit Kosakenfotos, Medaillen, Fachbüchern und einem Säbel aus meinen Familienbeständen.“
Binnen kürzester Zeit füllte sich der Raum mit Exponaten. „Aus der Bevölkerung hatten viele die Habseligkeiten der Abtransportierten oder von den Briten Getöteten an sich genommen und aufbewahrt, die sie dann zu mir brachten“, erklärt der Erzpriester.
Aus dem einen Raum wurde dann ein zweiter und als Kobro in Rente ging, kamen weitere Räume hinzu, so daß es heute ein ganzes Stockwerk ist. „Wir sind am Hauptplatz 3, und vor neun Jahren berichtete die lokale Presse erstmals über das ‘Kosakenmuseum Lienz’“, so Kobro stolz.
Der zentrale Mittelpunkt des Museums ist die örtliche Kosakentragödie. Mittlerweile gibt es allerdings zu weiteren Themen Expositionen – zum einen „Freiheitskampf der russischen Kosaken gegen den Kommunismus und blutige Repressalien“, zum anderen „Kosaken im Zweiten Weltkrieg: General Helmuth von Pannwitz und sein XV. Kosaken-Kavallerie-Korps“ sowie die „Mobile Kosakenkolonie/Kosaken-Stan in Norditalien“
Das Museum kann auf Anfrage bei Frau Pätzold mit ihr besichtigt werden, und sie hat über die Jahre ihr Wissen immer wieder an Interessierte weitergeben dürfen. Da Weiterbestehen und Finanzierung des Museums auch zukünftig gesichert werden sollen, gründeten sie und Kobro den „Förderverein des Dr. G. Kobro-Kosakenmuseums“. „Alle diese Jahre trage ich den Großteil der Miete leider aus eigener Tasche – früher von meinem Monatslohn, jetzt von meiner Rente. Glücklicherweise habe ich eine sehr verständnisvolle Frau, die auch aus ihrer kleinen Rente etwas dazu beisteuert“, erzählt Kobro. „Wir haben etwa 50 Vereinsmitglieder, die mit freiwilligen Spendenbeiträgen unterstützen.“
Er hofft allerdings auf neue Interessierte. Das Land Tirol hat das Museum mittlerweile anerkannt. Es bekommt aber laut Kobro „keinerlei öffentliche Unterstützung, zumal das Thema ‚Deutsche Wehrmacht‘, durch die ständigen Bemühungen von linksgerichteten Geschichtsklitterern unsere Beamten abschreckt“.
„Erschwerend kommt jetzt der russische Ukraine-Krieg hinzu, über dessen Hintergründe und Absichten bei uns eine Unkenntnis und totale Desinformation herrscht, der das Ansehen Rußlands auf allen Gebieten, auch auf jenem der Kulturgeschichte, schwer geschädigt hat.“
Beim gemeinsamen Kaffeetrinken im Museum sitzen sowohl Russen als auch Ukrainer gemeinsam am Tisch und erinnern sich herzlich mit Liedern und Erzählungen an die Kosaken und stoßen typisch mit Wodka auf ihr Wohl an.
Für Frau Pätzold und Herr Kobro ist es wichtig, die Geschichte an die Jugend weiterzugeben. „Schließlich ist es auch ein Teil der Kärntner und der Osttiroler Geschichte. Die Bevölkerung hat bis heute eine traumatische Erinnerung daran“, erklärt er weiter und macht klar, daß es „in weiterer Sicht aber auch Teil der norditalienischen, der deutschen, der britischen und vor allem der russischen Geschichte“ ist und kritisiert, daß „Rußland sich mit seiner Vergangenheitsbewältigung sehr schwertut“.
Hier dominiert seines Erachtens seit 1945 und bis heute die stalinistisch-sowjetische Sichtweise: „Unser Land war blühend und frei, die bösen Nazis haben uns überfallen, und wer zu ihnen überlief, war und bleibt ein Verräter.“
„Angesichts dessen sehe ich unser Kosakenmuseum auch als einen Brückenschlag der Freundschaft und Beitrag zur Vergangenheitsaufarbeitung zwischen den betroffenen Völkern.“