Für die einen ist es ein spätes Geschenk der Ära Trump, für die anderen ein nicht enden wollender Albtraum. Zum zweiten Mal beendete der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten eine kontroverse und besonders bei konservativen Amerikanern verhaßte Praxis mit einem Urteil. Während im Juni vergangenen Jahres vor allem Abtreibungsbefürworter eine herbe Niederlage akzeptieren mußten, trifft es im Juni 2023 all diejenigen, die sich für die sogenannte „Affirmative Action“ einsetzten. Affirmative Action umschreibt die künstliche Implementierung von ethnischer Vielfalt an Bildungseinrichtungen des Landes.
Wer sich als angehender Student etwa in Harvard bewirbt, wird nach seiner Ethnie gefragt und erhält entsprechend Bonuspunkte. Besonders davon profitiert haben Afroamerikaner, während weiße und asiatische Amerikaner von dem System diskriminiert wurden. Interessenvertreter asiatischer Studenten bezeichneten die bevorzugte Vergabe von Studienplätzen an Angehörige anderer ethnischer Gruppen als ganz klar „verfassungswidrig“, so der Vorsitzende der Organisation Students for Fair Admissions, Edward Blum. Seine Organisation hatte geklagt und sich dabei auf das Diskriminierungsverbot des Civil Rights Acts von 1964 berufen.
Eine Verfassungsänderung, die ausgerechnet auf die Arbeit afroamerikanischer Aktivisten wie etwa Martin Luther King zurückzuführen ist. Die Argumentation des Supreme Court hat es in sich – struktureller Rassismus sei in den USA nicht mehr vorhanden. Die Gesellschaft und ihre Institutionen hätten daher farbenblind zu sein. Der Vorsitzende des Gerichts, der konservative John Roberts bezeichnete die bisherige Regelung als implizit rassistisch, denn „zu lange“ hätten Universitäten im Land die Überzeugung gehabt, daß „das Herzstück der individuellen Identität nicht Fähigkeiten, bezwungene Herausforderungen oder Bildung“ sei, sondern „die eigene Hautfarbe“. Eine Ansicht, der sich auch Richter Clarence Thomas, selber Afroamerikaner, anschloß. Die Vergabe von Studienplätzen nach Hautfarben sei „offensichtlich verfassungswidrig“ gewesen.
Scharfe Kritik kommt hingegen von der linken Minderheit im Gericht, die ebenfalls schwarze Richterin Ketanji Brown Jackson warf der konservativen Mehrheit vor, dem ganzen Land „Farbenblindheit“ verschreiben zu wollen, während ihre Kollegin Sonia Sotomayor die USA als unverändert „tief nach Ethnien getrennte Gesellschaft“ bezeichnete.
Konservative feiern die gesellschaftspolitische Wende
Allerdings beendet die Entscheidung des Supreme Court nicht generell die Bevorzugung nichtweißer oder nichtasiatischer Minderheiten. Sofern im Rahmen des Bewerbungsverfahrens die eigene Ethnie und ihre Geschichte als Teil der Identität des Bewerbers deutlich wird, können die zuständigen Annahmestellen der Universitäten weiterhin Vorzugspunkte verteilen. Eine Praxis, die die Vorsitzende der Harvard Black Students Association, Angie Gabeau, heftig kritisiert. Denn nun müßten schwarze Bewerber „familiäre Traumata auspacken“, um weiterhin berücksichtigt zu werden.
Dennoch feiern besonders konservative Amerikaner die Entscheidung des Supreme Court als Teil einer legislativen, gesellschaftspolitischen Wende. Der ehemalige US-Präsident Donald Trump, dessen Berufung konservativer Richter an den Gerichtshof die nötige Mehrheit für diese Entscheidung brachte, bezeichnete die Entscheidung der Richter als „großartigen Tag“. Ein scharfer Kontrast zu seinem Nachfolger Joe Biden, der sich weigerte, die Entscheidung als „letztes Wort“ anzuerkennen. Es handle sich bei dem obersten Gericht „nicht um ein normales Gericht“, so Biden. Tatsächlich erweist sich die Besetzung des Gerichts als bleibendes Erbe der Trump-Ära. Wenige Tage nach der Entscheidung gegen Affirmative Action entschied der Supreme Court auch in zwei weiteren Fällen gegen den Wunsch der demokratischen Bundesregierung. Zum einen räumte das Gericht ein mit demokratischer Mehrheit verabschiedetes Gesetz ab, das ehemaligen und aktuellen Studenten bis zu 20.000 Dollar als Zuschuß zur Abzahlung von durch Studiengebühren entstandene Schulden eingeräumt hätte, zum anderen entschied der Gerichtshof zugunsten eines Webdesigners aus Colorado, der sich aus religiösen Gründen geweigert hatte für schwule Paare Hochzeitsnetzseiten zu erstellen. Längst bezeichnen einzelne linke Wortführer das oberste Gericht als „reaktionäre Gang“, die sich anschicke „erstrittene Rechte wieder zurückzuerobern“, so die linke Journalistin Rebecca Solnit. Es sei Zeit „zurückzuschlagen“.