Es war eine harte Woche für die regierenden Konservativen mit einer bitteren Niederlage zum Schluß: Das höchste Berufungsgericht für England und Wales (Court of Appeal) entschied mehrheitlich am vergangenen Donnerstagvormittag, Abschiebungen nach Ruanda seien unrechtmäßig. Dabei widersprachen sie der Einstufung Ruandas als sicheres Drittland durch den High Court im Dezember vergangenen Jahres. Der Premierminister Rishi Sunak kündigte bereits die nächste Runde im obersten Berufungsgerichtshof, dem Supreme Court, an.
Drei Tage zuvor veröffentlichte das Kabinett ein Gutachten zu dessen Prestigevorhaben, Zehntausende illegale Migranten nach Ruanda zu deportieren. So soll der Plan zusätzlich zu den 140 Millionen Pfund (ca. 162 Millionen Euro), die bereits in das afrikanische Land geflossen sind, 169.000 Pfund (196.000 Euro) pro abgeschobene Person kosten. Zudem wäre nur ein Bruchteil aufgrund der Kapazitätseinschränkungen des Asylsystems betroffen. Sofort hagelte es Kritik, auch aus den eigenen Reihen.
„Es ist besorgniserregend, wenn das Innenministerium selbst sagt, daß es nicht sicher sein kann, ob diese Zahlen stimmen“, sagte die ehemalige Migrationsministerin der Tories, Caroline Nokes, dem Nachrichtensender Sky News. Die dem linken Flügel der Partei zugerechnete Abgeordnete räumte ein, sie fände es schon immer kaum rechtfertigbar, weshalb die Fälle innerhalb des ruandischen Asylsystems bearbeitet werden sollen.
Noch schärfere Töne ließen sich während der Debatte im Unterhaus hören. „Hielte Rishi Sunak sein Versprechen, jeden (...) Asylbewerber abzuschieben, tatsächlich ein, hätte dies sogar Milliarden Pfund mehr als das jetzige kaputte Asylsystem der Tories gekostet“, erklärte die Innenpolitikerin der sozialdemokratischen Labour, Yvette Cooper. „Das Gutachten zeigt, daß Nichtstun keine Option ist“, betonte hingegen Innenministerin Suella Braverman.
So sollen mit der Umsetzung des Plans mindestens 106.000 Pfund (123.000 Euro) an laufenden Ausgaben pro Illegalen eingespart werden. Mit diesem Plan wolle die Regierung gegen Schlepperbanden vorgehen und das Asylsystem wieder ins Gleichgewicht bringen. Die Einschätzung selbst macht das Problem deutlich: Laut einer internen Berechnung des Home Office (Innenministerium) betrugen die Unterbringungskosten pro Kopf und Nacht in 2016 noch knappe 13 Pfund bei 42.000 berechtigten Schutzsuchenden; bleibt es allerdings beim aktuellen Kurs, sollen die Kosten mit 178 Pfund pro Kopf und Nacht alle Rekorde brechen, ebenso wie die Anzahl der Illegalen (185.000).
Schon jetzt zeichnet sich eine erneute Verschärfung der Asylkrise ab. Allein in der zweiten Juniwoche entdeckte die Küstenwache 2.159 Migranten auf kleinen Booten, im gesamten Vormonat dagegen nur 1.664. Zeitgleich bleibt es bei Zehntausenden unbearbeiteten Asylanträgen. Sunak versprach, jeden einzelnen davon bis Ende des Jahres zu bearbeiten, doch nach Einschätzungen der Nichtregierungsorgansation „Refugee Council“, die sich für die Belange der Migranten einsetzt, müßte dies alle vier Minuten ohne Pause geschehen, damit er sein Wort halten kann.
Dabei trifft der breit angekündigte Kampf gegen Illegale auf viele Probleme. Die Zusammenarbeit mit Frankreich gestaltete sich nach dem Brexit schwierig. Zuletzt verpflichtete sich das Vereinigte Königreich im März, 541 Millionen Euro zu zahlen, damit ein neues Asylzentrum im Norden des benachbarten Landes entsteht.
Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron wies demgegenüber darauf hin, die Dublin-Regelung sei nach dem Brexit nicht mehr anwendbar. Sie gewährleistete, daß Einreisende ins erste Land der Ankunft in der Europäischen Union ausgeschafft werden konnten.
Dieses Jahr fingen die französischen Behörden zum ersten Mal seit dem Beginn der Krise mehr als die Hälfte der Asylbewerber ab. Gegenüber der Times allerdings sagte eine Quelle aus dem britischen Grenzschutz (Border Force), dieser Anteil müsse weit darüber liegen. Teilweise versagen auch die eigenen Behörden: Ende Mai verweigerten fünfzig Migranten ein Rettungsangebot der französischen Marine, da sie damit Anspruch auf ein Verfahren in Großbritannien verloren hätten. Anschließend kam ein Schiff der Border Force zu Hilfe und brachte sie nach Dover, wie die Daily Mail berichtete.
„Die Leute werden jede einzelne Entscheidung bekämpfen“
Der Ausschaffungsprozeß gestaltet sich schwierig. Viele sabotieren diesen mit Hilfe der Gerichte. So sollten die ersten abgelehnten Einwanderer bereits im Juni letzten Jahres nach Ruanda fliegen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verhinderte jedoch den Vorgang in der letzten Minute. Wohl auch deshalb setzte das linksliberal dominierte britische Oberhaus am Mittwoch voriger Woche eine Gesetzesänderung durch, die die Europäische Menschenrechtskonvention in Abschiebungsfällen als verbindlich sieht.
„Ich kann nicht verstehen, warum das britische Parlament kein Gesetz zur Aufhebung der Zuständigkeit des EGMR für die britische Politik verabschiedet hat“, kommentierte der australische Ex-Premier Tony Abbott gegenüber dem Nachrichtensender GB News die Lage. Zwar drohte Rishi Sunak mehrfach seinen Gegnern, die Konvention zu verlassen, doch als sich die Chance während der Verhandlungen zum EU-Nordirland-Abkommen angeboten hatte, nutzte er sie nicht.
Zudem finanziert die Tory-Regierung ausgerechnet die eigenen Kläger: Nach Angaben des parteinahen Thinktanks Conservative Way Forward belief sich die öffentliche Förderung der linken NGOs, die Widerstand gegen Großbritanniens Migrationspolitik leisten, zwischen 2017 und 2021 auf insgesamt 203 Millionen Pfund.
„Die Leute werden das Gesetz gegen moderne Sklaverei oder über Menschenrechte anwenden, um jede einzelne Entscheidung zu bekämpfen“, warnte der ehemaligen Vorsitzende der Brexit-Partei, Nigel Farage, bereits im Dezember vergangenen Jahres: „Es klingt gut, es klingt wunderbar – aber es wird nicht funktionieren.“ Doch im nächsten Jahr sind Wahlen und die Schlepperboote angesichts der gesamten Rekordeinwanderungszahlen von 1,2 Millionen im vergangenen Jahr, der anhaltenden Wirtschaftsstagnation und miserabler Umfragen nur die Spitze des Eisberges. Ob Sunak will oder nicht – die Realität zwingt ihn zum radikalen Handeln.