© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/23 / 07. Juli 2023

Gegen den verhaßten Staat
Frankreich: Als wäre es das erste Mal, zeigt sich die Politik über die Gewalt überrascht
Friedrich-Thorsten Müller

Die Polizeikontrolle eines arabischstämmigen Jugendlichen mit tödlichem Ausgang wurde am Dienstag vergangener Woche zum Auslöser der schwersten Unruhen, die Frankreich in den letzten 18 Jahren erlebte. Selbst die dreiwöchigen Krawalle von 2005, denen ebenfalls tödliche Polizeischüsse auf migrantische Jugendliche vorangingen, sind von der vorläufigen Schadensbilanz der ersten sechs Nächte seit dem Vorfall teilweise in den Schatten gestellt worden. So mußten landesweit nicht nur 5.662 Auto- und 11.113 Mülleimerbrände gezählt werden. 1.059 Gebäude wurden angezündet oder anderweitig beschädigt, darunter Rathäuser, öffentliche Einrichtungen und auch etwa 250 Polizeiposten. 

Außerdem fiel auch das Privathaus des Bürgermeisters von L’Haÿ-les-Roses, einem Vorort von Paris, einem Brandanschlag zum Opfer, wobei dessen Ehefrau bei der Flucht aus dem Gebäude verletzt wurde. Durch Angriffe auf Geschäfte, Tabakläden und Bankfilialen ist darüber hinaus laut Arbeitgeberpräsident Geoffroy Roux de Bézieux allein bis Montag ein Schaden von über einer Milliarde Euro entstanden. Nach offiziellen Angaben kam es in den ersten sechs Nächten der Unruhen zu 3.354 Festnahmen vorwiegend nordafrikanischstämmiger Jugendlicher, davon allein 1.282 im Großraum Paris. Bereits 260 Täter wurden – teilweise sogar am Wochenende – in Schnellgerichtsverfahren verurteilt. Insgesamt waren 45.000 Polizisten im Einsatz, von denen 700 verletzt wurden.

Indes sind die französischen Behörden mit Nachdruck bemüht, den Sachverhalt hinter der tödlichen Polizeikontrolle aufzuklären. Präsident Macron sprach, ohne die Ermittlungsergebnisse abzuwarten, von einem „unverzeihlichen Vorfall“. Er möchte unbedingt den Fehler seines Amtsvorgängers Nicolas Sarkozy vermeiden, der 2005 – damals noch als Innenminister – „mit dem Kärcher das Gesindel aus den Vorstädten austreiben“ wollte und damit die Unruhen zusätzlich anheizte. 

Die Politik ist sich nicht einig, wie den Krawallen zu begegnen ist 

Auch seinen für diese Woche geplanten Staatsbesuch in Deutschland sagte der Präsident ab, um direkt auf die Geschehnisse reagieren zu können. Dafür traf er sich Anfang der Woche mit Vertretern von Senat und Nationalversammlung sowie den über 220 betroffenen Bürgermeistern. Auf die Verhängung des Ausnahmezustandes verzichtete der sonst hart durchgreifende Innenminister Gérard Darmanin bis auf weiteres. Dafür entsprach das Polizeiaufgebot dem Vierfachen der 2005 eingesetzten 11.000 Beamten. 

Der bisher als vorbildlich bekannte Polizist, der die tödlichen Schüsse abgab, wurde wegen des Verdachts auf Totschlag in Untersuchungshaft genommen. Die Untersuchung des Todes von Nahel durch die Generalinspektion der Polizei leitet erstmals kein Polizeibeamter, sondern mit der 41jährigen Agnès Thibault-Lecuivre eine Staatsanwältin. 

Damit soll dem Verdacht der Parteilichkeit und Kameraderie vorgebeugt werden. Auch wenn die im Netz kursierenden Videoaufnahmen einen rabiaten Ablauf der Polizeikontrolle im Berufsverkehr des Pariser Geschäftsviertels Nanterre nahelegen, scheint sich zumindest der Verdacht der vorsätzlichen Tötung nicht zu erhärten: Die Untersuchungen der Tonaufnahmen des Todesvideos einer Passantin deuten darauf hin, daß der 17jährige polizeibekannte Nahel dazu aufgefordert wurde, die Hände hinter den Kopf zu nehmen und den Motor auszuschalten. Er fuhr ohne Führerschein mit einem geliehenen Mercedes mit polnischem Kennzeichen, hatte zuvor mehrere Verkehrsdelikte begangen und damit zwei Motorradstreifen auf sich aufmerksam gemacht. Im Netz kursierte dagegen – auch von den zwei Beifahrern befeuert – das Gerücht, der Polizist habe dem Kontrollierten „eine Kugel im Kopf“ angedroht. Dies sollte als Rechtfertigung dafür dienen, den Motor wieder gestartet zu haben, um sich per Flucht der Polizeikontrolle zu entziehen, wodurch es zu den tödlichen Schüssen kam.

Die Familie des ohne Vater aufgewachsenen Nahel reagierte unterschiedlich auf den Vorfall. Während die Mutter bei einer später eskalierenden Demonstration mit über 6.000 Teilnehmern auf einem Fahrzeug stehend mit Feuerwerkskörpern hantierte und sich bejubeln ließ, rief dessen Großmutter zum Ende der Krawalle auf. Sie sei zwar wütend auf den für den Tod ihres Enkels verantwortlichen Beamten, habe aber „Vertrauen in die Justiz“.

Die Familie des 38jährigen Polizisten mußte dagegen inzwischen ihren Wohnort verlassen. An eine Wand der Schule seiner Tochter waren Morddrohungen gesprüht worden. Der aus Ägypten stammende Spitzenbeamte und Islamkritiker Jean Messiha hat daraufhin für dessen Angehörigen in einer Spendenaktion über eine Million Euro gesammelt.

Auch in der Politik sind die Reaktionen so gespalten, wie es das Land ist: Die Vorsitzende der Grünen, Marine Tondelier, sowie Manuel Bompard von der Linkspartei LFI nahmen an Demonstrationen unter dem Motto „Alle hassen die Polizei“ teil. Der Chef der Linkspartei, Jean-Luc Mélenchon, kann sich darüber hinaus nicht zu einer klaren Distanzierung von der Gewalt durchringen und ruft stattdessen dazu auf, Schulen und Bibliotheken auszusparen. Republikaner-Chef Éric Ciotti fordert dagegen, „diesen Barbaren nicht nachzugeben“, während Marine Le Pen die Verhängung des Ausnahmezustands fordert und die Einwanderung für die Zustände im Land verantwortlich macht.

Ähnlich konträr fielen auch die internationalen Reaktionen aus: Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki machte illegale Migration für die Krawalle verantwortlich. Dagegen erinnerte Algeriens Außenministerium Frankreich daran, eine Schutzpflicht gegenüber algerienstämmigen Bürgern zu haben.