Der ruinöse Krieg in der Ukraine dauert an, doch die Diskussionen um einen Neuanfang des gebeutelten Landes haben längst eingesetzt. Die Europäische Union, der Internationale Währungsfonds oder große Vermögensverwalter wie BlackRock versprechen großzügige humanitäre und finanzielle Hilfe. Dabei ist jetzt schon klar: Die internationalen Institutionen verfolgen häufig ganz eigene Intereressen – nicht immer zum Vorteil des ukrainischen Volkes.
Nach Schätzungen der Weltbank aus dem April braucht es 341 Milliarden US-Dollar, um den Wiederaufbau der Ukraine zu finanzieren. Der Ministerpräsident Denys Schmyhal sprach im vergangenen Sommer bereits von 750 Milliarden US-Dollar. Seit 2017 – also nicht erst seit dem russischen Angriff im Februar 2022 – treffen sich alljährlich westliche und ukrainische Regierungsvertreter, Finanz-institute und Akteure der „Zivilgesellschaft“, um Möglichkeiten zu erörtern, wie sich das Land aus der wirtschaftlichen Misere befreien kann. Das Forum startete als „Konferenz zur Reform der Ukraine“. Seit 2022 heißt es „Konferenz zum Wiederaufbau der Ukraine“ („Ukraine Recovery Conference“).
Am 21. und 22. Juni ging es für die westlichen Eliten – unter ihnen auch Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) – nach London, wo mit markigen Worten eine blühende Zukunft für das Land präsentiert wurde. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen machte klar, daß am Ende der Entwicklung die EU-Mitgliedschaft stehe: „Wenn die Ukrainerinnen und Ukrainer sich ihre Zukunft vorstellen, dann stellen sie sich vor, wie die EU-Flagge über ihren Städten weht.“ Von der Leyen versprach der Ukraine weitere 50 Milliarden Euro – wenn die Ukraine Reformen im Sinne der EU vorantreibe. Seit Februar 2022 haben die EU und ihre Finanzinstitutionen bereits mehr als 53 Milliarden Euro an „finanzieller, humanitärer, haushaltspolitischer und militärischer Unterstützung“ bereitgestellt, wie eine Sprecherin der EU-Kommission der JF mitteilt. Nun also hat die Kommission „eine neue Fazilität mit Zuschüssen und Krediten in Höhe von bis zu 50 Milliarden Euro vorgelegt, um der Ukraine von 2024 bis 2027 vorhersehbare Finanzmittel zur Verfügung zu stellen“. Die Bundesregierung gab fernab der EU-Programme seit dem russischen Angriff bereits 16,8 Milliarden Euro dazu (Stand Mai), „als humanitäre Unterstützung, direkte Zahlungen oder in Form von Waffen“. Damit ist Deutschland für die Ukraine weltweit der größte staatliche Geber nach den USA.
Nun sollen vermehrt private Stiftungen und Finanzinstitute mobilisiert werden. Auch die Konferenz in London stand im Zeichen der „Beteiligung des Privatsektors“ am Wiederaufbauprozeß, wie es im Programm der Veranstaltung heißt. „Wir laden Investoren ein, bestimmte Sektoren und Möglichkeiten zu prüfen. Um dies zu unterstützen, setzt die Ukraine weiterhin eine ehrgeizige Reformagenda um und sucht nach Möglichkeiten, Investitionen in der Ukraine zu fördern und Risiken zu verringern.“
Zahlreiche BlackRock-Manager arbeiten nun für die US-Regierung
Koordiniert werden die internationalen Darlehen, Zuschüsse und Spenden über die „Plattform zur Geberkoordinierung für die Ukraine“, die im Januar 2023 gestartet wurde. Aktive Teilnehmer dieser exklusiven Runde, die sich auch in London am Rande der Wiederaufbau-Konferenz traf, sind Vertreter des Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank, der G7-Staaten, der Europäischen Kommission und weiterer internationaler Finanzinstitute.
Den Vorsitz der Geberplattform teilt sich der US-Amerikaner Mike Pyle mit einem Ukrainer und einem Vertreter der EU-Kommission. Pyle ist in Washington als stellvertretender nationaler Sicherheitsberater für internationale Wirtschaft tätig und arbeitete zuvor als Chef-Investmentstratege von BlackRock. Er steht stellvertretend für den kurzen Draht, den der weltgrößte Vermögensverwalter mittlerweile ins Weiße Haus hat. Die Liste der hochkarätigen Wechsel läßt sich fortsetzen: Bis zu seinem Ausscheiden aus dem Amt im Februar 2023 galt Brian Drees als der wichtigste wirtschaftspolitische Berater der US-Regierung. Der 45jährige war bis 2021 der Globale Leiter für Nachhaltiges Investieren bei BlackRock. Der momentane stellvertretende US-Finanzminister Wally Adeyemo arbeitete zwei Jahre lang als Senior Advisor bei BlackRock, nachdem er zuvor als Interims-Stabschef von BlackRock-Chef Larry Fink tätig war. Eine weitere entscheidende Schnittstelle zur Ukraine ist Eric van Nostrand, der von seiner Position als Research-Leiter für nachhaltiges Investieren bei BlackRock direkt ins US-Finanzministerium wechselte. Dort fungiert er als Leitender Berater für Wirtschaftsfragen inbezug auf Rußland und die Ukraine.
BlackRock nimmt dadurch nicht nur mittelbar, sondern auch direkt auf den möglichen Wiederaufbau in der Ukraine Einfluß. Bereits im November 2022 hatten der Vermögensverwalter und die ukrainische Regierung eine Absichtserklärung unterzeichnet, wonach der Finanzgigant „beratende Unterstützung bei der Gestaltung eines Investitionsrahmens leisten wird, mit dem Ziel, Möglichkeiten für öffentliche und private Investoren zu schaffen, sich am künftigen Wiederaufbau und der Erholung der ukrainischen Wirtschaft zu beteiligen“.
Das erste Treffen zwischen Präsident Wolodymyr Selenskyi und Larry Fink im September 2022 arrangierte der australische Milliardär Andrew Forrest. Sein Vermögen erwarb der 61jährige mit dem Bergbauunternehmen Fortescue Metals Group, dem viertgrößten Eisenerzproduzenten der Welt. Der Konzern versteht sich heute als „globales Unternehmen für grüne Energie und Metalle“. Forrest setzt auch mit seiner Investmentgruppe „Tattarang“ vor allem auf grüne Energie wie Wasserstoff, da „fossile Brennstoffe zutiefst unzuverlässig sind“ und „die Ursache für unermeßliches Leid“.
Der Australier startete im selben Monat, in dem BlackRock das Memorandum mit der Ukraine unterschrieb, einen „grünen“ Wiederaufbaufonds für die Ukraine, den seine Investment-Gruppe mit 500 Millionen Dollar auflegte. Bis zu 100 Milliarden US-Dollar will die „Ukraine Green Growth Initiative“ einsammeln, um „den Wiederaufbau der Ukraine innerhalb einer Generation zu unterstützen und gleichzeitig Renditen für die Investoren zu erwirtschaften“, wie Forrest erklärte. Der Ukraine stünde ein „goldenes Zeitalter“ bevor. Wieviel von dem Geld bislang eingesammelt wurde, ließ die Tattarang-Gruppe auf Nachfrage der JF unbeantwortet.
Ukrainer lehnen die fortschreitende Privatisierung mehrheitlich ab
Auch andere Finanzinstitute haben längst ihre Finger mit im Spiel: Die größte US-Bank JP Morgan unterzeichnete im Februar 2023 ebenfalls ein Memorandum mit der Ukraine, um privates und öffentliches Kapital ins Land zu holen. Dafür plant das Finanzinstitut sogar, eine eigene „Entwicklungsfinanzierungsbank“ zu gründen. Auch die Beratungsfirma McKinsey ist seit Mai mit an Bord, um mit der ukrainischen Regierung zusammenzuarbeiten.
Was Weltbank, IWF, EU, die USA und alle anderen beteiligten Institutionen eint, ist das Verlangen nach Reformen in der Ukraine. Reformen, die vor allem auf eine Privatisierung der ukrainischen Wirtschaft und eine Öffnung für das internationale Kapital abzielen. Gänzlich neu sind die skizzierten Ansätze nicht. Schon auf der „Konferenz zum Wiederaufbau der Ukraine“ im vergangenen Jahr in Lugano, Schweiz, legten die Staatenlenker und Finanzinstitute den Grundstein für die Investments. Die Teilnehmer entwarfen in der Schweiz für die Reformagenda einen ausführlichen „Recovery Plan“, der 750 Milliarden Euro schwer ist. Die Summe also, die der ukrainische Ministerpräsident für nötig befindet.
Folgt man der Programmatik des „Recovery Plan“ sowie den Reden vieler westlicher Politiker auf den Konferenzen, geht es nicht nur um einen simplen Wiederaufbau. Im Grunde soll das Land aus dem Krieg heraus neu erfunden werden. Das Motto, das zahlreiche Schriften und Reden durchzieht, lautet: „Build back better“ („Besserer Wiederaufbau“). Ein Slogan, der in den vergangenen Jahren auch schon von Politikern wie Joe Biden, Boris Johnson, Justin Trudeau oder dem Weltwirtschaftsforum gebraucht wurde. Alles muß grüner, nachhaltiger, digitaler und diverser werden. So sieht der „Recovery Plan“ unter anderem die „Entwicklung einer Architektur für die Steuerung der Klimapolitik“ vor.
Vor allem aber soll die Ukraine eine Reihe harter Maßnahmen ergreifen, um die „Märkte zu öffnen“ und den „Verkauf staatlicher Unternehmen an private Investoren“ voranzutreiben. Schon 2018 heißt es in Dokumenten der Wiederaufbau-Konferenz, daß das „ultimative Ziel der Reform darin besteht, staatliche Unternehmen an private Investoren zu verkaufen“. Und dies obwohl – wie es die Autoren des Papiers ein paar Absätze später vermelden – eine Mehrheit der Ukrainer diesen Reformen negativ gegenübersteht. Laut einer Umfrage lehnten zum damaligen Zeitpunkt 49,9 Prozent der Ukrainer die Privatisierungswelle ab, nur 12,4 Prozent befürworteten sie.
Westliche Staatenlenker und Finanzinstitute lassen jedoch nicht locker. Sie fordern eindringlich, die Wirtschaft zu deregulieren und den Arbeitsmarkt zu flexibilisieren. Der „Recovery Plan“ sieht für Arbeitnehmer unter anderem eine Finanzierung des „Transfers in andere Regionen zu Arbeitszwecken“ vor. Zudem sollen Vorschriften für die Beschäftigung von Ausländern in der Ukraine gelockert werden.
Viel Spielraum hat die Regierung in Kiew ohnehin nicht. Sie ist aufgrund der Zerstörungen und Besetzungen im Land (das Bruttoinlandsprodukt ist seit Kriegsbeginn um 25 Prozent eingebrochen), der fortschreitenden Ausgaben für das Militär (22,9 Milliarden Euro in 2022) und seinem Schuldendienst (17,7 Milliarden Euro in 2022) gezwungen, immer weitere Kredite bei Großbanken aufzunehmen, obwohl es bereits jetzt der drittgrößte Schuldner des IWF ist. 37 Prozent seiner Ausgaben bediente das Land im vergangenen Jahr mit ausländischen Krediten und Spenden. Nur 38 Prozent stemmte es mit Steuern und Einnahmen. Den Rest lieh sich die Regierung bei der Nationalbank der Ukraine und den Bürgern des Landes. Wie der Wiederaufbau der Ukraine aussehen soll, liegt also längst nicht mehr allein in den Händen der Politiker in Kiew.
Wenn internationale Finanzinstitute wie der IWF oder die Weltbank involviert sind, dann wird auch nach ihren Regeln gespielt: „Menschen, die von Katastrophen betroffen sind, werden vor die Wahl gestellt, entweder eine Katastrophe mit wenig oder gar keiner organisierten internationalen Hilfe zu überstehen oder in die globalisierte neoliberale Entwicklung integriert zu werden“, umschrieb das Polit-Magazin Current Affairs im Januar 2021 das weltweite Vorgehen. Die so erzwungene Flexibilisierung des Arbeitsmarktes hat in der Ukraine bereits eingesetzt: 2022 lockerte Kiew den Kündigungsschutz, dann hob die Regierung die Höchstarbeitszeit auf 60 Stunden an. Am 17. August 2022 ratifizierte Selenskyi ein Gesetz, das zahlreiche Arbeiternehmerrechte in kleinen und mittleren Unternehmen abschafft. Künftig gelten für Betriebe mit bis zu 250 Beschäftigten nicht mehr die nationalen Arbeitsgesetze oder Tarifverträge, sondern nur die vertraglichen Vereinbarungen, die Einzelpersonen mit ihren Chefs getroffen haben. Rund 70 Prozent der Arbeitnehmer in der Ukraine wurden so zahlreicher arbeitsrechtlicher Schutzmaßnahmen beraubt.
Gleichzeitig muß die Ukraine einen großen Teil des Staatsvermögens veräußern. Dafür hat die Regierung einen „Staatseigentumsfonds“ gegründet. Noch sind die Erträge gering: Im Jahr 2022 spülte die Privatisierung laut Kiew 46 Millionen Dollar in den ukrainischen Haushalt. Doch im Fokus vieler Akteure steht bei der Privatisierungswelle auch eine weitere Thematik: Die Ukraine hat bekanntlich einen der fruchtbarsten Böden der Welt.
Lesen Sie in der kommenden Ausgabe, warum auch die Landwirtschaft im Fokus des Wiederaufbaus steht. Und welche ukrainischen Gesetze den Finanzriesen ein Dorn im Auge sind.