Die Überraschung ist Boris Pistorius (SPD) gelungen. Darüber, ob hinter der Ankündigung des Verteidigungsministers bei seinem Besuch in Litauen in der vergangenen Woche, Deutschland sei bereit, „dauerhaft eine robuste Brigade“ der Bundeswehr in den baltischen Staat zu verlegen und dort samt Familien zu stationieren, ein ausgeklügelter Plan steckt oder eher eine spontane und unbedachte Reaktion auf die Wünsche der Gastgeber, wird seitdem in Berlin gerätselt.
Boris Pistorius, soviel läßt sich bereits jetzt sagen, sieht sich seiner ersten großen politischen Bewährungsprobe gegenüber und verspürt zum ersten mal seit seinem Amtsantritt Anfang des Jahres so etwas wie Gegenwind. Denn alle Experten sind sich einig, daß die dauerhafte Stationierung eines rund 4.000 Soldaten umfassenden Kampfverbandes der Bundeswehr angesichts des desolaten Zustandes der Streitkräfte ein kaum zu bewältigender Kraftakt wäre. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, daß die Bundeswehr weitreichende Verpflichtungen innerhalb der Nato zur Abschreckung eines möglichen russischen Angriffes auf die östlichen Bündnispartner eingegangen ist.
Dazu gehören unter anderem die Aufstellung von zwei Divisionen bis 2027 – der erste dieser Großverbände soll sogar schon 2025 einsatzbereit sein. Doch bereits im April warnte der Inspekteur des Heeres, Alfons Mais, in einem Schreiben an den neuen Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, daß die für 2025 zugesagte Division „trotz aller Bemühungen“ bis 2025 „nur eine bedingte Einsatzbereitschaft“ herstellen können werde. Mit anderen Worten: Angesichts des eklatanten Mangels an Material, aber auch an Personal wird Deutschland seine Bündnisverpflichtungen in der Nato nicht vollständig erfüllen können. Für die zweite versprochene Division sehen die Prognosen noch wesentlich düsterer aus.
„Das war spontan, da gab es keinen Plan“
Pistorius’ Ankündigung, eine Brigade dauerhaft im Baltikum zu stationieren, dürfte daher nicht nur in der Bundeswehr und im Berliner Politikbetrieb, sondern auch bei den Partnerstaaten und den Nato-Stäben für Stirnrunzeln gesorgt haben. Zumal die Pläne des Militärbündnisses derzeit eine Rotation seiner Streitkräfte an der Ostflanke vorsehen und nicht die dauerhafte Stationierung. Diese ist nach der zumindest formal noch bestehenden „Nato-Rußland-Grundakte“ von 1997 nicht zulässig. Daher tauscht die Nato beispielsweise ihre Truppen im Baltikum, also auch die deutschen Einheiten in Litauen, derzeit alle sechs Monate aus.
Sowohl die zivile als auch die militärische Bundeswehrführung ist sich der Herausforderung bewußt. „Das Ziel einer solchen dauerhaften Stationierung an der Nato-Ostflanke ist ambitioniert – und es ist ein Stück weit Neuland für Deutschland und die Bundeswehr. Vor allem aber ist es gelebte Zeitenwende und ein klares Signal, daß wir bereit sind, unsere gemeinsame Freiheit auch gemeinsam mit unseren Freunden und Verbündeten zu verteidigen“, heißt es in einem Tagesbefehl von Pistorius und Generalinspekteur Breuer aus der vergangenen Woche.
Gerätselt wird nun, warum Pistorius trotz der beschriebenen Probleme den Litauern in aller Öffentlichkeit die dauerhafte Entsendung einer Kampfbrigade zugesagt hat. In Berlin wird dazu auf eine Reise von Bundeskanzler Olaf Scholz in das Baltikum im August vergangenen Jahres verwiesen. Damals hatte Scholz – offenbar spontan – geäußert, er könne sich die Entsendung einer Brigade nach Litauen vorstellen. Auch wenn der Kanzler diesen Vorschlag offenbar auf Betreiben seiner sicherheitspolitischen Berater später nicht wiederholte, hatten die Litauer das großzügige und in ihren Augen sicherheitspolitisch sinnvolle Angebot nicht vergessen und die deutsche Seite bei jeder sich bietenden Gelegenheit daran erinnert. Zuletzt war angesichts der deutschen Zurückhaltung in der Frage sogar spekuliert worden, Polen könnte in die Bresche springen, wenn Deutschland seine Zusage wieder einmal nicht einhalten würde, und stattdessen eigene Truppen im Nachbarland stationieren. Es ist daher gut möglich, daß Pistorius sich zu der Ankündigung genötigt sah, um zu verhindern, daß Deutschland beim bevorstehenden Nato-Gipfel in Wilna kommende Woche wieder einmal als unzuverlässiger Bündnispartner an den Pranger gestellt wird.
Doch auch wenn das die Motivation für den Vorstoß war, wirklich durchdacht war der Schritt offenbar nicht: „Das war spontan, da gab es keinen Plan“, zitiert die Neue Zürcher Zeitung eine Quelle, die mit den Abläufen im Verteidigungsministerium und in der Bundeswehr vertraut sei. Demnach habe Pistorius erst während des Fluges von Berlin nach Wilna den Vorstoß mit seinem politischen Direktor, Jasper Wieck, und Generalinspekteur Breuer entworfen, um die Litauer zu beruhigen.
Wie auch immer es dazu gekommen ist: Der deutsche Verteidigungsminister hat mit seiner Ankündigung einen Pflock eingeschlagen, hinter den Deutschland nicht zurück kann, ohne schweren diplomatischen Schaden anzurichten. In Berlin wird daher bereits fieberhaft nach einem Ausweg gesucht: Entweder indem die Stationierung tatsächlich in die Tat umgesetzt wird – was indes gewaltige, auch finanzielle, Kraftanstrengungen erfordern dürfte. Oder aber indem die Bundesregierung die Litauer unter Verweis auf die Verteidigungspläne der Nato doch noch von einer anderen Lösung überzeugt.
Für den bislang von vielen Seiten mit Lob bedachten Verteidigungsminister dürfte der Ausgang darüber entscheiden, ob er seine ersten ernsthaften politischen Blessuren davonträgt oder weiterhin eine weiße Weste behält.
Raus aus Mali
Und täglich grüßt das Murmeltier: Wie schon im Fall Afghanistan muß die Bundesregierung auch in Mali ihre ursprünglichen Abzugspläne über den Haufen werfen. Bis Ende des Jahres wird die Bundeswehr den westafrikanischen Krisenstaat verlassen, nachdem der UN-Sicherheitsrat einstimmig das Ende des Minusma-Einsatzes beschlossen hat. Das laufende Mandat der Ampel-Koalition sah einen Abzug bis Ende Mai 2024 vor. Die Putschisten-Regierung in Bamako, die mittlerweile von russischen Söldnern unterstützt wird, will die Blauhelme so schnell wie möglich loswerden. In dem seit 2013 andauernden Einsatz starben drei deutsche Soldaten. (vo)