© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/23 / 07. Juli 2023

Blauer Doppelwumms
Kommunale Erfolge: Während der AfD-Wahlsieg in Sonneberg Teile der Republik irritiert, folgt in Sachsen-Anhalt ein weiterer
Lorenz Bien

Der bärtige Mann mit der schwarzen Sonnenbrille fährt mit seiner Daumenkuppe durch die Wassertropfen an seinem Bierglas. „Ich kenne eure Sorte doch“, sagt er und hebt dann die Hand, um abzuwinken. Hier seien schon genug Journalisten durchgerauscht und hätten Mist erzählt. Kein Redebedarf.  Das Stadtcafé Sonneberg liegt im gleißenden Sonnenlicht, Schwarzpappeln stehen zwischen den kleinen Tischen. Etwa eine Woche ist vergangen, seitdem die Sonneberger den AfD-Politiker Robert Sesselmann zu ihrem Landrat gewählt haben. Und hier am Café hielten die Fernsehkameras auf die Menschen. Filmten sie während sie vor ihren Cappuccinos und Eisbechern saßen, hielten triumphierend fest, wie ein kurzhaariges Paar im mittleren Alter davon sprach, daß „den Ausländern alles in den Arsch geblasen“ werde. 

Dieser äußere Blick auf die Stadt grenzt für Sabine an eine „Frechheit“. Vielleicht, sagt sie, während sie mit einem Löffel durch ihren Kaffee rührt, könnte man sich ja auch einmal überlegen, wieso es zu dieser Wahl kam. Sabine ist 34 Jahre alt, verheiratet und hat zwei Kinder. Vor einem Jahr mußten sie und ihr Mann umziehen. Im alten Haus hatte sich Schimmel breitgemacht, an eine Renovierung war nicht zu denken. Beim Wohnamt bekamen sie erklärt, daß in der Stadt derzeit nichts frei sei. „Wir wußten, daß es leerstehende Wohnungen gibt. Als wir nachgebohrt haben, hieß es, daß sie wegen der Flüchtlingszahlen immer ein Kontingent an Wohnräumen freihalten müssen.“ Sie habe selbstverständlich nichts gegen Leute, die vor Krieg und Verfolgung flüchten. Aber daß die Hilfe für die Fremden mittlerweile wichtiger geworden ist, als sich um die Sonneberger zu kümmern, versteht Sabine nicht. „Wieso ist es plötzlich rechts oder irgendwie extrem, das so zu sehen?“ Als klare Protestwahl sieht sie den Sieg Sesselmanns allerdings nicht. „Das war auch eine Personenwahl.“ Schon 2018, als Sesselmann sich erstmals als Landrat zur Wahl gestellt habe, sei er den Leuten aufgefallen. „Der Mann hat zwei Jura-Staatsexamen. Der weiß auf jeden Fall wie Verwaltung funktioniert und wie man sich da durchbeißt.“ Und gute Vorschläge habe er gemacht. „Er wollte kostenloses Schulessen für alle Kinder einführen. Wie kann man da etwas gegen haben?

„Wir erkennen Signale, die die Wessis nicht erkennen“

Halb optimistisch, halb mißtrauisch sei nun die Stimmung in der Stadt. „Als Landrat kann er ja eigentlich nicht viel ausrichten. Und ihm werden sicherlich Steine in den Weg gelegt werden.“ 

Zwei Tage nach diesem Gespräch tritt Robert Sesselmann sein Amt an. „Ich wünsche mir sehr, daß die tiefen Gräben, die sich durch den Wahlkampf und die einhergehende mediale Berichterstattung ergeben haben, schnell überwunden werden. Das Ergebnis der demokratischen Wahl ist zu akzeptieren. Es gilt nun gemeinsam nach vorne zu schauen und unsere Region zum Wohle unserer Bürgerinnen und Bürger weiter zu entwickeln“, betont er in seiner offiziellen Erklärung. 

Es läßt sich sehr wenig Revolution und Aufruhr aus den Dingen herauslesen, die der erste blaue Landrat Deutschlands plant. Nur einen Satz richtet er an den Chef vom Dienst des Radiosenders „MDR Aktuell“, Michael Voß. Ohne allerdings dessen Namen zu nennen. Voß hatte auf Twitter dazu aufgefordert, Sonneberg zukünftig wirtschaftlich und touristisch zu boykottieren. Er verurteile derartige „undemokratische und völlig deplazierte Boykottaufrufe“ scharf, konterte Sesselmann.

Nicht nur Voß schlägt harte Töne an. Zwei Tage nach der Wahl spricht der Chef des Thüringischen Verfassungsschutzes, Stephan Kramer, in einem Interview von „ungefähr 20 Prozent braunem Bodensatz“ in Deutschland und meint damit potentielle AfD-Wähler.  „Eine Frechheit“ sei die Äußerung Kramers, findet Uwe Scheler. Der Leiter einer IT-Firma sitzt auf der Veranda seines Hauses. Eine graue Katze schleicht durch den Garten, die jüngste Tochter stellt Erdbeerkuchen und Kaffee auf den Tisch. Eigentlich wird bei den Schelers am Wochenende im Haus gearbeitet und der Garten gehegt; Scheler trägt noch sein zerschlissenes Arbeitshemd. Doch heute müssen die Beete mal für ein paar Stunden ruhen.  „Da drüben, bei der Kirche“, sagt er und deutet mit dem Arm den Hügel hinunter, „haben wir uns 1989 zur Montagsdemonstration versammelt. Uns gegenüber stand die Volkspolizei, allesamt bewaffnet mit Gewehren. Es ist eigentlich ein Wunder, daß niemand die Nerven verloren hat.“ Selbstverständlich spielten auch bei dieser Landratswahl die Erlebnisse unter dem SED-Regime eine Rolle, betont er. „Wir erkennen Signale, die die Wessis nicht erkennen. Etwa, wenn Politik arrogant wird. Dann ist für mich immer etwas faul.“ 

Arrogant sei allerdings auch die Berichterstattung über den Ort gewesen. „Bei dem Beitrag von Spiegel-TV haben die sich die Idioten, die Zahnlosen, herausgesucht und die dann als typische Sonneberger und prototypische AfD-Wähler hingestellt. Das ist unredlich.“ 

Auch der Chef des thüringischen Verfassungsschutzes beeindruckt ihn wenig. „Sesselmann hat zwei juristische Staatsexamen, Kramer hat mit Anfang 50 seinen Master nachgeholt.“ Bei Sesselmann brenne die Hütte, wenn er demokratisch gewählt werde, Kramer sei hingegen von niemandem gewählt worden. „Da ist es doch deutlich, daß hier politische Gesinnung vor Leistung gestellt wird.“ 

Auch der Vater von Scheler sitzt mit am Tisch. Er teilt die Befürchtungen seines Sohnes, hat aber Hoffnungen für Sonneberg. „Die CDU verhält sich hier vor Ort sehr fair. Die Grünen und die Linkspartei tun es nicht.“ Auf der großen Ebene könne man der Union allerdings nicht mehr trauen. „Sie stützen nach wie vor die Minderheitsregierung der Linkspartei in Thüringen. Nach der Sache mit Kemmerich hatte Ramelow eigentlich versprochen, daß es Neuwahlen geben werde. Und dann blieb er einfach im Amt.“ Es könne gar nicht ausbleiben, daß sich die Bürger da fragen würden, ob sie noch in einer Demokratie leben, findet Scheler. Und auch, daß sich die CDU langfristig auflösen werde. „Sie hat ihre Glaubwürdigkeit verspielt.“ 

Einen Tag später und knapp 222 Kilometer weit entfernt stehen AfD-Politiker, Wahlhelfer und Unterstützer im Wahlkreisbüro von Hannes Loth und wischen über ihre Handys. An diesem Tag wird in der Ortschaft Raguhn-Jeßnitz, Sachsen-Anhalt, ein neuer Bürgermeister gewählt. Und Loth ist Kandidat. „Nervös“ antwortet er auf die Frage, wie er sich fühle. Und nervös wirkt er auch. Hin und wieder trommelt er mit den Fingern auf einen der umstehenden Tische. Oder er greift sich einen der blau glasierten Mini-Donuts, die auf Papptellern bereitliegen. Der Landtagsabgeordnete Daniel Roi spricht ihm Mut zu. 

„Ich rechne eigentlich mit nichts. Keine Ahnung, ob ich wirklich gewinne. Im ersten Wahlgang war mein Vorsprung ja sehr knapp“, sagt Loth und zuckt mit den Schultern. Dann läuft er aus dem Büro, um draußen zu telefonieren. Mehr und mehr füllt sich der Raum. Viele Menschen aus dem Dorf sind gekommen und klopfen sich zur Begrüßung auf den Rücken. „Wo bleibt denn der Kaffee?“, grummelt ein bärtiger Mann mittleren Alters. „Anja! Heute mal ohne Kuchen?“, schallt es einer Frau mit schulterlangen roten Haaren entgegen, die ins Büro kommt. Zur Antwort grinst sie und klopft einmal kurz auf den Tisch.

Auch die Medien sind da. Ein großes Team des MDR, mit Kameras, ebenso die Bild. Viel wurde in den letzten Tagen darüber gesprochen, wie man mit dem Erfolg der Partei umgehen solle. Etwas im Land käme „ins Rutschen“, betont der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer einen Tag nach der Wahl in Raguhn-Jeßnitz und warnt vor einer Polarisierung in amerikanischem Maßstab.

Der Grund für diese Aussage ereignet sich an diesem Sonntag plötzlich sehr schnell. 53 Prozent habe der AfD-Kandidat, heißt es zunächst und tatsächlich erscheint diese Zahl kurz darauf auf der Internetseite der Stadt. Aber da sind die Briefstimmen noch nicht ausgezählt. Also wieder nervöses Wischen, hastiges Tippen und kollektives Senken der Köpfe. Ein Mann mit großem Schnäuzer greift sich eine Sektflasche und schiebt hoffnungsvoll die Finger unter den Korken. „Gleich haste gewonnen, dann köpf’ ich sie.“ Einer der Männer schreit plötzlich auf. „Loth! Du bist es! 51,1 Prozent!“ Mit zwei Schritten hastet er auf den überraschten Sieger zu und umarmt ihn. „Han-nes, Han-nes!“ erhebt sich ein Sprechchor, der in weitere Umarmungen übergeht. Einige Augen scheinen dabei feucht zu glänzen. 

Seine wichtigste erste Aufgabe sei es, die Verwaltung vor Ort zu straffen, betont Loth einige Minuten später. „Zur Zeit ist die Stadtverwaltung etwas desorganisiert.“ Zudem müsse die Feuerwehrstation wieder auf Vordermann gebracht werden. Und auch der Stadtbibliothek gehe es nicht gut.

„Beunruhigend“ nennt die Landesvorsitzende der Linkspartei, Janina Böttger, das Ergebnis kurze Zeit später. „Massiv enttäuschend“ findet es der Grünen-Landeschef Dennis Helmich. Der Ministerpräsident Sachsen-Anhalts, Reiner Haseloff (CDU) glaubt, die Politik müsse ihre Wähler dringend zurückgewinnen. Zusammenarbeit mit der AfD dürfe es nicht geben, Beschimpfungen der Wähler allerdings auch nicht.