© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/23 / 30. Juni 2023

Der Flaneur
Meine neuen Duzfreunde
Paul Meilitz

Ich bin beliebt. Anders kann ich es mir nicht erklären, daß ich immer mehr Duzfreunde habe. Dazu zählen mittlerweile Versicherungen, Onlinehändler, Internetanbieter, DHL und schließlich auch die Verkehrsbetriebe der deutschen Hauptstadt. 

Die als „informelle Kommunikation“ verklärte Kumpanei breitet sich wie ein zentral koordiniertes Krebsgeschwür auch dort aus, wo es weder hilfreich noch angemessen ist. Jüngst so erlebt bei besagtem Verkehrsanbieter. 

Mein per Abo erworbenes Ticket befand sich bis zum ersten Gültigkeitstag nicht im analogen Briefkasten. Um nicht als Schwarzfahrer – oder wie immer das inzwischen politisch korrekt heißen mag – meine makellose Bilanz zu gefährden, begab ich mich in die Untiefen eines Gebildes, das zwar Kundendienst heißt, aber stark satirische Züge aufweist.

Kaum befanden wir uns auf dem Bahnsteig, kamen wir uns verbal näher.

Über eine Webseite mit „Service Plot“ erreichte mich nach dem mühsamen Ausfindigmachen einer Telefonnummer die Empfehlung, doch bitte ein „Kundencenter“ aufzusuchen. Das Verharren in der telefonischen Warteschlange hatte mich knapp 15 Minuten meiner Lebenszeit gekostet. Daß ich während der virtuellen Korrespondenz mit einem vertraulichen „du“ umgarnt wurde, vermochte mich nicht zu trösten. 

Doch am Folgetag – als Fahrgast guten Gewissens auf dem Weg zu einem Kundencenter – sorgte eine Fahrscheinkontrolle für die Klarstellung der Machtverhältnisse. Mit einem energischen „Bitte steigen Sie mit uns aus“ erzwangen zwei migrantische Muskelpakete die Fahrtunterbrechung. Doch kaum befanden wir uns allein auf dem Bahnsteig, kamen wir uns kommunikationstechnisch wieder näher. „Du bleibst jetzt hier!“, hieß es robust. 

Die wiederhergestellte Vertraulichkeit endete erst, nachdem ich eine auf dem Hosentaschencomputer gespeicherte elektronische Nachricht aufpoppen ließ, die mich als zahlender Fahrgast legitimierte. Am Kundencenter endlich angelangt, kam ich auch zu meinem Ticket. Das von einer nett lächelnden Mitarbeiterin vorgetragene „Wir bitten Sie, die Unannehmlichkeiten zu entschuldigen“ versetzte mich wieder in den Status eines formellen Fahrgastes. Doch ausgerechnet in diesem Fall hätte mir ein „du“ – unter anderen Umständen – besser gefallen.