Ist in der Literatur oder in aktuellen historisch-politischen Debatten die Rede von Kriegsverbrechen während des Zweiten Weltkriegs, so fällt fast reflexartig der Blick auf von Deutschen begangene Taten. Das blendet oft die Tatsache aus, daß auch seitens der Alliierten zahllose Verbrechen an Wehrmachtssoldaten und Zivilisten verübt wurden. Meist endet die Darstellung bei sowjetischen Greueltaten in Ostdeutschland seit dem Herbst 1944. Nur wenigen ist bewußt, daß auch durch US-amerikanische Soldaten in den westdeutschen Besatzungszonen sogar noch nach Kriegsende Verbrechen gegenüber deutschen Kriegsgefangenen und Zivilisten begangen wurden.
Wer heute an Rhein und Nahe wandert, ahnt wegen der heute nicht mehr sichtbaren Spuren etwas davon, daß es in Orten wie Büderich, Remagen, Sinzig, Andernach, Heidesheim, Bad Kreuznach oder Böhl-Iggelheim 1945 alliierte Kriegsgefangenenlager gigantischen Ausmaßes gab. Diese sogenannten „Rheinwiesenlager“, offizielle Bezeichnung „Prisoner of War Temporary Enclosures“, sind nicht zuletzt aus diesem Grund weitgehend aus der gesellschaftlichen Erinnerung verschwunden.
„Politische Lager“ wurden bisher historisch nicht aufgearbeitet
An dieser Stelle soll ein exemplarischer Überblick über das westalliierte Lagersystem der sogenannten 23 „Rheinwiesen“ vermittelt werden, einer der größten Komplexe von Gefangenenlagern, die in erster Linie von den US-amerikanischen, aber auch den britischen und französischen Besatzern im Jahr 1945 eingerichtet wurden. In den überfüllten Lagern wurden mehr als eine Million Menschen gefangengehalten, vor allem ehemalige Wehrmachtsangehörige aus Deutschland. Die Lager entstanden im Zeitraum April bis Juni 1945 und wurden alle nach einem weitgehend einheitlichen Schema errichtet. Am Rande eines Ortes, der in der Regel einen Bahnanschluß hatte, wurde eine offene Wiesen- oder Ackerfläche abgegrenzt. Dieses Areal unterteilten die Besatzer mit Stacheldrahtzäunen in zehn bis zwanzig euphemistisch als „Camps“ bezeichnete Teilflächen, die Platz für fünf- bis zehntausend Gefangene boten. Vorhandene Feldwege wurden zu Lagerstraßen umfunktioniert, und angrenzende Gebäude dienten meist der allierten Verwaltung, nur selten und auch erst viel später als Küchen und Krankenstationen.
Neben den großen Rheinwiesenlagern existierten aber noch zahlreiche bis heute so gut wie unbekannte weitere 48 „Auffanglager“, 18 in Frankreich, 29 in der Sowjetunion und eines in Belgien, sowie 300 sogenannte „Politische Lager“, allesamt errichtet in den alliierten Besatzungszonen, davon 221 in der amerikanischen, 13 in der britischen, 12 in der französischen und 25 in der sowjetischen Zone sowie 29 in Österreich. Dabei handelte es sich häufig – analog zu den „Rheinwiesenlagern“ – um nur mit Stacheldraht umgebene Wiesen, Brach- und Ackerflächen ohne geringste Infrastruktur wie Bedachungen oder Ansätze sanitärer Einrichtungen. Sie waren unterschiedlich groß und bestanden zu unterschiedlichen Zeiten, teilweise nur wenige Wochen.
Die Zustände, konkreten Gefangen- oder Opferzahlen, ja oft allein die Existenz einiger dieser Lager harren bis heute einer systematischen geschichtlichen Aufarbeitung seitens der historischen Fakultäten bundesdeutscher Universitäten. So bleibt es Hobbyhistorikern überlassen, wenigstens einen Teil dieses Desiderates zu beackern. Einer davon ist Horst W. Gömpel. Er hat in seinem Buch „Rheinwiesen-Lager 1945 bis 1948 – ein Trauerspiel in Deutschland“ aus dem Jahr 2020, das kürzlich in der 6. aktualisierten und erweiterten Auflage erschien, die „Rheinwiesenlager“ und die vielen weiteren oben genannten Inhaftierungslager der Alliierten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einer intensiven und breiten Untersuchung unterzogen, die auf eigenen Recherchen und umfassenden Augenzeugenberichten von Anwohnern und Insassen basiert, die aus biologischen Gründen bald nicht mehr erreichbar sind.
Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang vor allem, daß Gömpel im Jahr 2021 aus dem Nachlaß eines ehemaligen Regierungsbeamten in den Besitz von etwa 4.000 Dokumenten-Durchschriften gelangte, die – von ihm und zwei Helfern akribisch dokumentiert – einen tiefgründigen und erschreckenden Einblick über massive Mißhandlungen deutscher Kriegsgefangener und anderer Insassen seitens der US-amerikanischen Soldaten und Lagerkommandanten nicht nur in den 23 Rheinwiesenlagern, sondern auch in zahlreichen der erwähnten Politischen Lager ermöglichen. Außerdem werden in einigen Zeitzeugenberichten Dutzende von alliierten kriegsrechtswidrigen Handlungen vor der Kapitulation am 8. Mai 1945 geschildert: Bombardierung von ausgewiesenen Lazarettstädten, Hauptverbandsplätzen, rücksichtslose Vernichtung von Sanitätskolonnen, Mißbrauch der Rotkreuzmarkierungen, Ermordung von Rotkreuz-Sanitätern, Angriffen auf Personenzüge, Jagd auf flüchtende zivile Eisenbahnpassagiere, spielende Kinder und ackernde Bauern ...
In den insgesamt 371 Lagern wurden neben den deutschen Kriegsgefangenen auch Parteimitglieder der NSDAP und Funktionsträger ihrer Gliederungen, aber auch Bürgermeister und Lehrer sowie weibliches Personal wie Bürogehilfinnen und Stenotypistinnen, unter unmenschlichen Bedingungen inhaftiert. Häufig und aus kaum nachvollziehbaren Gründen wurden viele Gefangene oft von einem Lager ins andere gekarrt (bis in Lager nach Frankreich) und legten zum Teil dabei, auf Lastwagen stehend oder in luftdichten Güterwagen und verschmutzten Viehwaggons eingepfercht, bis zu 600 Kilometer zurück. Derartige Lager befanden sich beispielsweise in Hessen unter anderem in Kirchheim, in Marburg-Cappel, in Neustadt, in Schreufa bei Frankenberg sowie in Schwarzenborn und Trutzhain. Im Fulda-(Haune)-Lager waren nach Recherchen von Gömpel rund 30.000 Soldaten und politische Gefangene mehrere Monate auf Wiesen inhaftiert.
Vertreter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz erhielten daher keinen Zugang zu den US-Lagern – weder zu den Rheinwiesen- noch zu den Politischen Lagern – und konnten somit weder vor Ort intervenieren noch die Öffentlichkeit auf die schlimmen Bedingungen aufmerksam machen. Da aus vermeintlichen Sicherheitsbedenken die dort internierten deutschen Soldaten ihre komplette Feldausrüstung, darunter auch Zeltbahnen und Decken, abgeben mußten, konnten sie oft nicht einmal Notbehelfe zum Schutz vor Sonne und Regen aufbauen und waren gezwungen, Wind und Wetter ausgesetzt, unter freiem Himmel auf den verschlammten Wiesen zu schlafen beziehungsweise sich mit den bloßen Händen Erdlöcher als Schlafstätten zu graben. Waren die hygienischen Bedingungen schon miserabel, so verschärfte die mangelhafte Verpflegung mit Lebensmitteln die Lage für die Insassen von Tag zu Tag weiter. Obwohl nach den Regeln der Genfer Konvention Kriegsgefangene, was die Kalorienanzahl angeht, wie Angehörige des eigenen Militärs zu verpflegen sind, nahmen die US-amerikanischen Besatzungstruppen darauf keinerlei Rücksicht.
Die Opferzahlen variieren aufgrund der dürftigen Quellenlage
In der von Gömpel erstellten Dokumentation finden sich zahlreiche Hinweise auf die völkerrechtswidrige Behandlung der deutschen Kriegsgefangenen in den Rheinwiesenlagern. So schilderte beispielsweise der Zeitzeuge Kurt Peters, der am 12. April 1945 im Ruhrkessel verwundet und daraufhin in ein Lazarett in Herborn gebracht worden war, daß im Mai und Juni 1945 auffallend viele kranke, halbverhungerte deutsche Soldaten, teilweise auch mit schweren Unterkühlungen in das gleiche Lazarett eingeliefert wurden, von denen viele verstarben. Sie alle waren zuvor in den Rheinwiesenlagern, vor allem in Remagen und Bad Kreuznach, interniert gewesen. „So lag ich längere Zeit mit Stabsingenieur Hänftling aus München zusammen, der in Kreuznach in Kürze 70 Pfund abgenommen und sich bei dem Leben im Freien ohne jeden Schutz einen Lungenabszeß mit anschließender Bronchialfistel zugezogen hatte“, berichtete Arzt Peters weiter.
Viele dieser Darstellungen über die Gefangenschaft in US-amerikanischem Gewahrsam erwähnen zudem Mißhandlungen bei Verhören, Transporten und auf Märschen zwischen den Lagern, außerdem die Raublust US-amerikanischer Soldaten, angefangen von der Armbanduhr bis hin zum Ehering. Und sie handeln immer wieder von der Unmenschlichkeit, mit der alliierte Soldaten – auch wiederum zumeist der US-Armee – sich an den wehrlosen deutschen Gefangenen mit Gewalttätigkeiten vergingen. Äußerungen von US-Aufsehern werden übereinstimmend bezeugt: „Ihr seid hier keine Menschen, sondern Schweine! Der US-Armee ist es ganz egal, was ich mit euch mache. Und mir ist es lieber, ihr verreckt alle an einem Tag als daß nur täglich ein paar von euch krepieren!“
Hinsichtlich der Opfer variieren aufgrund der dürftigen Quellenlage die Zahlen sehr stark. Immer wieder werden die Zahlen des kanadischen Historikers James Bacque zitiert, daß 800.000 bis eine Million deutsche Kriegsgefangene in den alliierten Lagern verhungert seien und daß dies sogar geplant gewesen war („Der geplante Tod. Deutsche Kriegsgefangene in amerikanischen und französischen Lagern 1945–1946“, Berlin 1989). Allerdings erfuhren Bacques Ergebnisse rasch Widerspruch, unter anderem vom US-Historiker Stephen E. Ambrose oder Hans-Erich Volkmann, Wissenschaftler am Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Freiburg, die ihm gravierende Fehler bei der Quellenauslegung und der Interpretation von US-Statistiken („Other Losses“) nachwiesen. Der Washingtoner Militärhistoriker Albert Cowdrey hält bis zu 56.000 Tote in allen US-amerikanischen Lagern für möglich. Der Historiker Arthur L. Smith gibt Schätzungen für Opferzahlen in den Rheinwiesenlagern von 8.000 bis 40.000 Toten an und bezeichnet die Behandlung vieler deutscher Soldaten in den Lagern als das, was es auch war, nämlich ein Kriegsverbrechen.
Der Militärhistoriker Rüdiger Overmans verweist zwar auch darauf, daß mehrere tausend Deutsche „unter unwürdigen, vermeidbaren Umständen“ ums Leben gekommen seien, korrigiert die Opferzahlen aber deutlich auf 8.000 und 10.000 nach unten. Die Lager mit der höchsten Sterblichkeit waren Bad Kreuznach (Lager Galgenberg und Lager Bretzenheim), Sinzig bei Remagen, Rheinberg, Heidesheim am Rhein, Wickrathberg und Büderich. In diesen sechs Lagern kamen mindestens 5.000 der etwa 500.000 Insassen zu Tode. Daraus sind aber nur schwer Berechnungen zu anderen Lagern abzuleiten, herrschten dort unterschiedliche Bedingungen, vor allem im Hinblick auf die Anzahl der jeweils internierten Deutschen. Überhaupt nicht mit einbezogen werden in die Schätzungen bei den offiziellen Opferzahlen jedoch die anderen über 300 existierenden Lager, in denen ähnlich katastrophale Bedingungen herrschten.
Die US-amerikanischen Rheinwiesenlager wurden schließlich bis zum 10. Juli 1945 an die Franzosen übergeben, die Briten hatten die US-amerikanischen Lager in ihrer Besatzungszone bereits bis zum 12. Juni übernommen. Bis etwa Ende September 1945 wurden dann sowohl die britischen als auch die französischen Lager aufgelöst. Lediglich das „Feld des Jammers“ bei Bad Kreuznach – heute eine der wenigen offiziellen Gedenkstätten – diente noch bis Ende 1948 für die aus Frankreich heimkehrenden Kriegsgefangenen als Durchgangslager.
Es bleiben jedoch nach wie vor viele Fragen offen: Warum wurden die Gefangenen nicht einfach, wie die Genfer Konvention es vorschreibt, formal eindeutig aus dem Dienst entlassen und nach Hause geschickt? Warum wurden massenhaft aus sowjetischer Gefangenschaft entlassene, teilweise kranke und halbverhungerte Menschen wiederum von den US-Amerikanern eingesperrt und mißhandelt? Deren Oberbefehlshaber Dwight D. Eisenhower hatte 1945 auf Flugblättern verlauten lassen, daß alle gefangenen Soldaten entsprechend den Schutzregeln der Genfer Konvention behandelt würden.
Horst W. Gömpel: Rheinwiesen-Lager und Politische Lager 1945–1948. Ein Trauerspiel in Deutschland. Eigenverlag, Schwalmstadt-Ziegenhain, 4. Auflage 2022, broschiert, 305 Seiten, 22,50 Euro