© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/23 / 30. Juni 2023

Albert Schweitzer – der gute Deutsche aus dem Tropenwald
Ethischer Popstar zur Sühne
(wm)

Wohl kein anderer Ort stehe für die deutsche Eingemeindung des Urwalds wie das zentralafrikanische, im heutigen Gabun gelegene Lambaréné. Dort errichtete Albert Schweitzer (1875–1965), Theologe, Organist, Bach-Interpret, Arzt, 1913 ein Urwaldspital samt Missionsstation, die, wie die Berliner Kulturwissenschaftlerin Caroline Fetscher mit dem in ihrem Metier üblichen höhnischen Unterton schreibt, „zum besten deutschen Tropenwald wurde, den es je gab“. Seine jahrzehntelange Arbeit in Lambaréné sei, so faßt der „Globalhistoriker“ Andreas Eckert (HU Berlin) ein wesentliches Ergebnis von Fetschers aktuellem Buch über die Schweitzer-Rezeption nach 1945 zusammen, verdichtete sich zu der Legende vom „Helfer der Menschheit“, die den Aufstieg des vielgeehrten „Urwaldarztes“ zum „ethischen Popstar der jungen Bundesrepublik“ verständlich mache (Merkur, 6/2023). Denn nach Krieg und Holocaust sei für die Mehrheit der Deutschen psychisch kaum etwas überlebensnotwendiger gewesen als die Identifizierung mit Personen und Orten, die moralische Entlastung versprachen. Dem „Schweitzer-Kult“ um den Friedensnobelpreisträger von 1952 diente einer „latenten stellvertretenden Sühneleistung für die NS-belastete Bevölkerung“. „Wir sind gut“, durfte man sich mit Schweitzer versichern. 


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