© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/23 / 30. Juni 2023

Deutsche Leidensgemeinschaft
Wo das Kollektiv über das Tagebuch siegt: Der britische Historiker Roger Woods ist angetreten, um die geschichtspolitischen Absichten in Walter Kempowskis „Echolot“ zu enthüllen
Wolfgang Müller

Als im Herbst 1993 die ersten vier, die Wochen vor und nach der Katastrophe von Stalingrad vergegenwärtigenden Bände von Walter Kempowskis „kollektivem Tagebuch“ erschienen, empfing Frank Schirrmacher sie in der FAZ mit einem Hymnus: „Wenn die Welt noch Augen hat zu sehen, wird sie im ‘Echolot’ eine der größten Leistungen der Literatur unseres Jahrhunderts erblicken.“ 

Von diesem Moment an, kurz vor seinem Eintritt ins Rentenalter, war Kempowski das ihm von der linksliberalen Kulturschickeria früh angepappte Stigma vom „schreibenden Schulmeister“ endgültig los. Vom gönnerhaft so titulierten provinziellen „deutschen Chronisten“, der in den 1970ern mit seiner „Tadellöser & Wolff“-Saga ein großes Lesepublikum, aber niemanden unter den mehrheitlich „progressiven“ Kritikern und den „lieben“ Kollegen begeisterte, rückte er im Lauf der 1990er, mit den veröffentlichten weiteren 3.000 „Echolot“-Seiten, zum globalisierten „Chronisten des Jahrhunderts“ (Die Zeit) auf. 2005, der Schlußstein war mit „Abgesang ’45“ soeben gesetzt, kannte das etablierte Feuilleton dann nur noch Superlative: Kempowski, der „Herakles der historiographischen Collage“ (Die Welt), das „Echolot“, „eines der am meisten beeindruckenden Unternehmen der deutschen Literaturgeschichte“ (Süddeutsche Zeitung). Diese inzwischen von einer vitalen Kempowski-Forschung grundsätzlich bestätigte Wertschätzung des 2007 verstorbenen Autors will der emeritierte britische Ideenhistoriker Roger Woods (Nottingham), ausgewiesen mit Studien zur „Konservativen Revolution“ in der Weimarer und zur „Neuen Rechten“ in der Berliner Republik, nun nicht gelten lassen (Berliner Debatte Initial, 33/2022).

Woods, der im legendären Kempowski-Archiv der Berliner Akademie der Künste recherchiert hat, wo sich auf 400 Regalmetern die 8.000 Tagebücher, Autobiographien, Brief- und Fotosammlungen ausdehnen, die dem manischen Sucher nach der verlorenen Zeit als Quellenreservoir des „Echolots“ dienten, befragte diesen Materialberg im Stile von Walters notorisch Sprüche klopfendem älteren Bruder Robert: „Was das nun wieder soll?“ Ist ihm doch aufgefallen, daß Kempowski sich in den stets nur knappen Vorbemerkungen zu den Teilbänden des Epos mit Auskünften zur Methode, zu den kompositorisch maßgeblichen Auswahlprinzipien und erst recht zur Absicht des monumentalen Unternehmens aufs äußerste zurückhält. Auch die „Notizen zum Echolot“ („Culpa“, 2007) hätten ihm darüber kaum etwas verraten. Ehefrau Hildegard, so hält ihr an einem Vorwort-Konzept verzweifelnder Gatte dort 1992 fest, meinte, „ich spreche wie ein Bauer, wenn ich mich theoretisch über etwas verbreite. – Ja, das Theoretisieren liegt mir nicht.“

Kempowski habe „Opferstatus der Deutschen“ festschreiben wollen

Trotzdem vermittelte er seine Zeitzeugnisse nicht als neutrales Medium. Das verhinderte schon die tropische Fülle der Texte, die ihn zur subjektiven Auswahl zwang. Und das hierfür theoretisch nicht explizierte Leitmotiv glaubt Woods anhand zwar seltener, aber klarer Aussagen zumindest schemenhaft rekonstruiert zu haben. Gleich eingangs zu „Culpa“, den 1978 gefaßten Entschluß begründend, im niedersächsischen Nartum ein „Archiv für ungedruckte Lebenserinnerungen“ aufzubauen, heißt es, es solle die auf Büchsen gezogene Erfahrung der Altvorderen speichern, um sie „der Gesellschaft nutzbar zu machen“. 1980 wird es etwas konkreter: Die Sammlung solle Beziehungen der Einzelschicksale zur „‘großen’ Geschichte“ herstellen, um „dadurch ein Zurechtrücken des Geschichtsbildes“ zu erleichtern. Das von der „Vergangenheitsbewältigung“ der alt-bundesrepublikanischen Bewußtseinsindustrie kreierte schien ihm offenbar stark ergänzungsbedürftig, weil es den Generationen, die das Zeitalter der Weltkriege durchleiden mußten, keine „Gerechtigkeit“ habe zuteil werden lassen. „Wir können es uns nicht leisten“, so das Credo des von einem „unerklärlichen Drang“ zum Aufbewahren getriebenen Schriftstellers, „Erfahrungen ganzer Generationen zu vernichten.“   

Um den „ungehörten Stimmen“ der Eltern und Großeltern Raum zu geben, wählte der theoretisch untermotorisierte Kempowski instinktiv das im modernen Roman, bei Proust und Joyce, Virginia Woolf, Thomas Mann, Alfred Döblin und Arno Schmidt praktizierte Verfahren, die furchterregend chaotische Wirklichkeit einer entgötterten Welt mittels „vielfältiger Bewußtseinsspiegelung“ (Erich Auerbach) ordnend und sinngebend abzubilden. Im „Echolot“ mit seiner gefühlt tausendstimmigen Vielfalt der Perspektiven auf den Zweiten Weltkrieg hat diese Steigerung der Wahrnehmungskomplexität den Katharsis-Effekt, wie Woods im Rückgriff auf eine plastische Formel der Historikerin Gabriele Jancke (FU Berlin) argumentiert, scheinbare „Plausibilität von Verallgemeinerungen zu untergraben“. Aus jenen seien die marktgängigen Schwarz-Weiß-Bilder der jüngeren Vergangenheit entstanden, die das Veto der Quellen unterlaufen und historische Bildung abschleifen. 

Ungeachtet seiner weite Horizonte öffnenden Polyphonie wirkte das „Echolot“ indes nicht, wie es der Kempowski-Exeget Jörg Drews noch 2006 erwartete, als im besten volkspädagogischen Sinne den Selbstbehauptungswillen festigendes „Lesebuch der Nation“. Was für Woods sich nicht daraus erklärt, daß Volk und Nation den postnationalen bundesdeutschen „Eliten“ keine Bezugsgrößen mehr sind oder die wahrhaft „letzte Generation“ der noch im Deutschen Reich geborenen, im Erfahrungsraum des „Echolots“ beheimateten Bildungsbürger seit der Jahrtausendwende biologisch sukzessive abgetreten ist, sondern aus dem Kontrast zwischen dem multiperspektivischen Anspruch und der Wirklichkeit einer dualistischen Geschichtskonstruktion herkömmlicher Manier. Wenn auch unter anderen, wie Wood meint, „apologetischen“ Vorzeichen entwickelt.

Für den britischen Historiker „untergräbt“ das „Echolot“ daher keine ideologisch aufgeladenen Geschichtsbilder, weil es selbst eins produziert. Aus stichprobenartigen Vergleichen zwischen der Urfassung der dem Archiv überlassenen Manuskripte und ihren von Kempowski redigierten Versionen im „Abgesang ’45“ leitet Woods seine These ab, der Autor habe den „Opferstatus der Deutschen“ festschreiben wollen. Um seine Landsleute als von Adolf Hitler „irregeführtes Volk“, als „Opfer des Nationalsozialismus“ ebenso wie als Opfer des anglo-amerikanischen Luftterrors und des sowjetrussischen Vernichtungskriegs gegen die ostdeutsche Zivilbevölkerung zu inszenieren, habe der vermeintliche Nur-Chronist eine Reihe von Texten um jene bis zur Kapitulation Regimetreue verratenden Passagen gekürzt, die ihre Verfasser eher als vorsätzlich handelnde Mit-Läufer oder gar Mit-Täter denn als Opfer ausweisen. Die widersprüchliche Vielstimmigkeit „einzigartig heterogener individueller Erfahrungen“ sei mithin zugunsten einer „homogenisierenden“ Präsentation  der deutschen Leidensgemeinschaft preisgegeben worden. Ganz im Sinne von Kempowskis Untertitel für sein „Echolot“-Projekt „siegt damit das Kollektiv über das Tagebuch“.